Archer, Jeffrey
als das Flugzeug den Potomac River entlang zum Washington National Airport flog, sah Florentyna zutiefst beeindruckt auf das Weiße Haus, das Washington Monument, das Lincoln Memorial und das noch unfertige Jefferson Building hinab. Sie war nicht sicher, ob es ein Monument oder ein Denkmal werden sollte, und fragte Miss Tredgold nach dem Unterschied. Miss Tredgold meinte, sie müsse die Ausdrücke im Lexikon nachschlagen, wenn sie nach Chicago zurückkehrten. Zum erstenmal stellte Florentyna fest, daß Miss Tredgold nicht allwissend war.
»Es ist wie im Film«, bemerkte sie, als sie aus dem kleinen Fenster auf das Capitol hinuntersah.
»Was hast du erwartet?« fragte Miss Tredgold.
Henry Osborne hatte einen Besuch im Weißen Haus arrangiert und eine Gelegenheit, Senat und Repräsentantenhaus bei der Arbeit zuzuschauen. Kaum hatten sie die Galerie des Senatssaals betreten und gesehen, wie die einzelnen Sprecher sich erhoben, als Florentyna in Trance verfiel. Miss Tredgold mußte sie, wie einen Jungen vom Fußballplatz, buchstäblich wegschleppen, aber das hinderte Florentyna nicht, Henry Osborne mit Fragen zu bombardieren. Ihr Wissen erstaunte ihn; selbst für die Tochter des Chicago-Barons war es beachtlich.
Die Nacht verbrachten Florentyna und Miss Tredgold im Willard Hotel. Florentynas Vater hatte in Washington noch kein Baron gebaut, obwohl ihr Abgeordneter Osborne versicherte, daß eines im Entstehen sei; ja, den Grundstückkauf hätte man schon arrangiert.
»Was bedeutet ›arrangiert‹, Mr. Osborne?«
Weder von Henry Osborne noch von Miss Tredgold erhielt Florentyna eine befriedigende Antwort, und sie nahm sich vor, auch dieses Wort im Lexikon nachzuschla-gen.
Am Abend steckte Miss Tredgold das Kind in das große Hotelbett und nahm an, daß es nach einem so anstrengen-den Tag rasch einschlafen würde. Florentyna wartete, bis Miss Tredgold das Zimmer verlassen hatte, dann machte sie wieder Licht und zog unter dem Kopfkissen den
»Führer durch das Weiße Haus« hervor. F.D.R. in einem schwarzen Mantel blickte sie an. »Es gibt keine größere Berufung als den Dienst am Staat« stand in großen Buchstaben unter seinem Namen. Zweimal las sie das Büchlein durch, aber es war die letzte Seite, die es ihr angetan hatte. Sie begann sie auswendig zu lernen und schlief erst kurz nach Mitternacht ein. Das Licht brannte noch. Während Miss Tredgold auf dem Rückflug die letzten Nachrichten von den Kriegsschauplätzen las, nahm Florentyna wieder diese letzte Seite vor. Während des gesamten Fluges wurde Miss Tredgold kein einziges Mal beim Lesen gestört, und sie fragte sich, ob das Kind so erschöpft von der Reise sei. Zu Hause schickte sie Florentyna früh zu Bett, nachdem das Kind einen Dankesbrief an Henry Osborne geschrieben hatte. Als Miss Tredgold ins Zimmer kam, um das Licht zu löschen, studierte Florentyna immer noch den »Führer durch das Weiße Haus«.
Punkt halb elf begab sich Miss Tredgold in die Küche, um sich, bevor sie zu Bett ging, wie üblich eine Tasse Kakao zu machen. Als sie zurückkehrte, hörte sie etwas, das einem Singsang glich. Auf Zehenspitzen schlich sie zu Florentynas Tür und lauschte den geflüsterten Worten.
»Eins Washington, zwei Adams, drei Jefferson, vier Madison.«
Ohne sich einmal zu irren, sagte sie die Präsidenten auf.
»31 Hoover, 32 F.D.R., 33unbekannt, 34unbekannt, 35,36,37, 38,39,40,41 unbekannt. 42…«
Einen Moment trat Stille ein, dann: »Eins Washington, zwei Adams, drei Jefferson…«
Miss Tredgold schlich in ihr Zimmer zurück und lag eine ganze Weile wach. Sie starrte zur Zimmerdecke, während der Kakao kalt wurde. »Du bist dazu geboren, Lehrerin zu werden, und der Herr lenkt unser aller Schicksal.
Vielleicht wirst du jemanden lehren, der zu Größerem berufen ist.«
Hatte ihr Vater gesagt. Florentyna Rosnovski Präsidentin der Vereinigten Staaten? Nein, dachte Miss Tredgold, Florentyna hatte recht. Sie mußte jemand mit einem einfachen Namen heiraten.
Am nächsten Morgen stand Florentyna auf, sagte Miss Tredgold bonjour und verschwand im Badezimmer.
Nachdem sie Eleanor gefüttert hatte – der Hund schien mehr zu brauchen als sie selbst – las Florentyna in der Chicago Tribune, daß F.D.R. und Churchill die bedingungslose Kapitulation Italiens entgegengenommen hatten. Voll Freude teilte sie ihrer Mutter mit, daß Papa jetzt zurückkommen werde.
Zaphia pflichtete ihr bei und bemerkte zu Miss Tredgold, wie gut das Kind aussehe. »Und wie hat dir
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