Archer, Jeffrey
Washington gefallen, Florentyna?«
»Sehr gut, Mama. Ich glaube, ich werde eines Tages dort leben.«
»Warum, Florentyna? Was willst du dort machen?«
Florentyna sah zu Miss Tredgold auf, zögerte eine Sekunde und wandte sich wieder an ihre Mutter. »Ich weiß nicht recht. Ich finde, Washington ist eine hübsche Stadt.
Willst du mir bitte die Marmelade geben, Miss Tredgold?«
5
Florentyna wußte nicht, wie viele ihrer wöchentlichen Briefe den Vater erreicht hatten, denn bevor sie an Major Rosnovski geschickt wurden, mußten sie eine bestimmte Kontrollstelle in New York passieren.
Die Antworten kamen unregelmäßig; manchmal erhielt Florentyna in einer Woche drei Briefe, dann hörte sie wieder monatelang kein Wort. Wenn ein Monat ohne Brief verstrich, war sie überzeugt, daß ihr Vater gefallen sei. Miss Tredgold erklärte ihr, daß die Armee der Familie immer ein Telegramm schicke, wenn ein Verwandter vermißt oder gefallen sei. So stürzte Florentyna jeden Morgen als erste hinunter, um die Post nach der Handschrift des Vaters oder dem gefürchteten Telegramm zu durchsuchen. In manchen Briefen waren ein paar Worte mit schwarzer Tinte unleserlich gemacht worden. Beim Frühstück versuchte sie, den Brief gegen das Licht zu halten, konnte die Worte jedoch nicht entziffern. Miss Tredgold erklärte, diese Maßnahme diene der Sicherheit ihres Vaters; vielleicht hatte er unabsichtlich etwas geschrieben, das, wenn der Brief in falsche Hände geriete, dem Feind nutzen konnte.
»Warum sollten sich die Deutschen dafür interessieren, daß ich in Geometrie Zweite geworden bin?«
Miss Tredgold überging die Frage und erkundigte sich, ob Florentyna genug gegessen habe.
»Ich möchte noch einen Bissen Toast.«
»Ein Stück, mein Kind, ein Stück. Einen Bissen gibt man einem Pferd.«
Alle sechs Monate führte Miss Tredgold ihren Schützling, begleitet von Eleanor, in die Monroe Street zum Photographen. Dort wurde Florentyna auf einen hohen Stuhl und Eleanor daneben auf eine Schachtel gesetzt; Florentyna mußte in eine Kamera lächeln, damit Major Rosnovski nach den Photographien das Heranwachsen von Kind und Hund verfolgen konnte.
»Wir können doch nicht zulassen, daß er bei der Rückkehr sein einziges Kind nicht mehr erkennt«, erklärte Miss Tredgold.
Florentyna schrieb ihr Alter und das des Hundes (in Hundejahren) auf die Rückseite der Bilder, und in einem Brief fügte sie alle anderen Einzelheiten hinzu: daß ihr im Sommer Tennis und Schwimmen Spaß machten und im Winter Basketball und Fußball, und auch daß auf ihrem Bücherregal viele Schachteln mit Schmetterlingen standen, die sie mit einem herrlichen Netz fing, das sie von Mama zu Weihnachten bekommen hatte. Miss Tredgold mußte die Schmetterlinge sorgfältig betäuben, bevor sie aufgespießt und die lateinischen Namen dazugeschrieben wurden. Florentyna berichtete, daß ihre Mutter in der polnischen Frauenliga arbeite und sie selbst im Garten Gemüse pflanze. Von der Fleischknappheit seien weder sie noch Eleanor begeistert, aber sie esse gern ein Butterbrot, während der Hund knusprige Kekse vorziehe. Jeder Brief endete mit dem gleichen Satz: »Bitte komm morgen nach Hause.«
Der Krieg dauerte an, und man schrieb bereits 1944; Florentyna verfolgte den Fortschritt der Alliierten in der Chicago Tribune und hörte im Radio die Nachrichten aus London. Eisenhower wurde zu ihrem Idol, und heimlich verehrte sie auch General Patton, weil er offenbar ein wenig ihrem Vater glich. Am 6. Juni begann die Invasion.
Florentyna sah ihren Vater in der Normandie landen und war überzeugt, daß er nicht die geringste Überlebenschance hatte. Auf der Landkarte von Europa, die Miss Tredgold im Spielzimmer aufgehängt hatte, verfolgte sie den Vormarsch der Alliierten nach Paris. Endlich schöpfte sie Hoffnung, daß der Krieg sich tatsächlich seinem Ende nähere und der Vater bald zurückkommen werde.
Stunde um Stunde saß sie vor dem Haus in der Rigg Street und beobachtete gemeinsam mit Eleanor die Hausecke. Aus Stunden wurden Tage, aus Tagen wurden Wochen, und nur die beiden in Chicago abgehaltenen Parteikonvente lenkten Florentyna von ihrer Wache ab.
Zum erstenmal sah sie ihr politisches Idol in Wirklichkeit.
Im Juni wählten die Republikaner Thomas E. Dewey zu ihrem Kandidaten, und im Juli die Demokraten wieder Roosevelt. Abgeordneter Osborne nahm Florentyna zur Rede des Präsidenten vor dem Parteikonvent mit.
Florentyna war etwas verwirrt, daß sie Osborne jedesmal
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