Argus #5
Überfall war Chloe Larson nie in ihrem Leben etwas Böses widerfahren. Sie wusste, dass schlimme Dinge passierten, sie hörte in den Nachrichten davon, aber diese Dinge passierten anderen Leuten, und sie passierten ihnen aus bestimmten Gründen: Die Opfer lebten in gefährlichen Gegenden, oder sie verkehrten mit gefährlichen Leuten, oder sie konsumierten Drogen oder Alkohol.
Und dann war es ihr passiert. Und es gab keinen Grund.
Der Mann, der sie vergewaltigt und beinahe getötet hatte, wusste alles über sie, bevor er überhaupt Hand an sie legte: was sie am Tag zuvor zu Abend gegessen hatte, wo sie im Urlaub gewesen war, ihre Noten an der Uni, wo ihr Freund wohnte, er kannte ihr Lieblingsparfüm und ihren Spitznamen. Und er hatte es genossen, ihr all sein Wissen mitzuteilen, während er sie vergewaltigte. Weil er so viel über sie wusste, gingen die Detectives davon aus, dass der Überfall kein Zufall gewesen war, keine Gelegenheitstat, sie war gestalkt und gejagt worden. Und die schlimmste Erkenntnis war, dass sie keine Ahnung gehabt hatte. Sie musste ihm irgendwo begegnet sein, doch sie konnte sich an niemanden erinnern, der ihr irgendwie komisch oder unheimlich vorgekommen war. Einen Mann, den sie kennengelernt und bei dem sie ein ungutes Gefühl gehabt hatte. Sie hatte auch nicht bemerkt, dass ihr jemand gefolgt war. Erst nach der Vergewaltigung wurde ihr klar, dass der Täter viele Male in ihrer Wohnung gewesen sein musste, bevor er sie überfiel. Er war ihre Schubladen durchgegangen und hatte ihre Unterwäsche angefasst. Ihre Post gelesen, ihr Tagebuch auswendig gelernt. Er hatte aus ihrem Kühlschrank gegessen, ihren Anrufbeantworter abgehört. Mit Ermittlern, die so abgebrüht waren, dass sie von der Tatsache, dass sie überlebt hatte, gelangweilt schienen, hatte sie – auf eigenes Drängen – die Verbrecherkartei durchgesehen, auf der Suche nach irgendwelchen Narben oder Merkmalen, die sie wiedererkannte. Und da war sie zu der schrecklichen Erkenntnis gekommen: Der Mann, der sie vergewaltigt hatte, hätte jedes dieser Gesichter sein können. Und jedes der Gesichter, die auf dem Rückweg von der Polizei im Bus neben ihr saßen oder ihr bei Dunkin’ Donuts Kaffee einschenkten.
Jeder war ein Verdächtiger, jede Situation eine Bedrohung. Es gab keinen Hinweis darauf, wer die Bösen waren, wer Spaß daran hatte, anderen Schmerzen zuzufügen und Angst zu machen, wer sich an der Qual und dem Leiden anderer weidete. Psychopathen mischten sich unter die Menge, unbemerkt von der Beute, die sie verfolgten, und warteten ab, bis sie irgendwann zuschlugen. Wer war echt? Von wem ging eine Bedrohung aus?
Das Narbengewebe baute sich auf, genau wie die Therapeutin gewarnt hatte. Unfähig, irgendjemandem zu vertrauen, wurde Chloe eine Gefangene in ihrem eigenen Kopf.
«Aus welchem Grund möchten Sie Anklägerin werden, Ms. Townsend?», hatte der Assistant State Attorney von Miami-Dade bei ihrem Vorstellungsgespräch gefragt. «Ihrem Lebenslauf entnehme ich, dass Sie Erfahrungen in Zivilverfahren und Arzthaftungsrecht haben. Wie kommt es zu dem Kurswechsel?»
«Jemand, der mir nahesteht, wurde Opfer eines Gewaltverbrechens. Ich will meine Fähigkeiten als Anklägerin nutzen, um Gutes zu tun. Ich will Gewaltverbrecher von der Straße holen», erklärte C. J.
Der Assistant State Attorney nickte. «Tut mir leid für Ihren …» Er sprach den Satz nicht zu Ende, wartete, dass sie die Lücke füllte.
«Meine Schwester», log sie.
«Was ist passiert, wenn ich fragen darf?»
«Sie wurde vergewaltigt. Der Täter ist nie gefasst worden. Die Sache hat meine Sicht auf die Richtung meiner Laufbahn geändert.»
«Glauben Sie, die Erfahrung könnte Ihr Verständnis des Rechtssystems negativ verändert haben? Können Sie bei der Beurteilung von Fällen noch unvoreingenommen sein?»
C. J. nickte. «Im Jurastudium habe ich gelernt, nach Gerechtigkeit zu streben. Ganz gleich, was am Ende Gerechtigkeit ist.»
Im Studium hatte Chloe nie daran gedacht, sich auf Strafrecht zu spezialisieren. Nachdem sie als eine der Besten ihres Jahrgangs Examen gemacht hatte, hätte sie eigentlich eine glänzende Karriere als Fachanwältin für Arzthaftungsrecht beginnen sollen. Aber dazu war es nicht gekommen. Sie hätte einen anderen erfolgreichen Anwalt heiraten sollen. Aber auch dazu war es nicht gekommen. Am Ende war sie als Staatsanwältin viel besser, als sie als Arzthaftungsanwältin je geworden wäre. Und am Ende erwies es sich
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