Argus #5
Erinnerung erschaffen.
Er sah sich jede Zeichnung einzeln an, bis er die fand, die er suchte. Er faltete sie auseinander und legte sie neben sich auf das Kissen. Mit den Fingern strich er über das zerknitterte Papier. Egal, wie oft er es ansah, das Bild erregte ihn immer noch. Er hatte es im Kopf, wie ihr Gesicht sich anfühlte, die Wangenknochen, das herzförmige Kinn, ihre geriffelte Kehle. Mit Buntstiften hatte er ihre grünen Augen koloriert, das seidige blonde lange Haar, die vollen roten Lippen. Er konnte sie riechen. Er hatte immer noch ihren Geschmack im Mund.
Chloe … Meine gar nicht süße Chloe Joanna …
Und jetzt war er der Freiheit einen Schritt näher. Der Traum, den er so oft in der Phantasie durchgespielt hatte, wurde vielleicht endlich Realität. Vielleicht sah er sie wirklich wieder – eine Begegnung, nach der er sich sogar noch mehr sehnte als nach der Freiheit.
Er war besessen. Er dachte nur an sie. Jetzt wusste er, wie einem so was passieren konnte – dass man immer nur ein Gesicht im Kopf hatte, an nichts anderes denken konnte. Nur an diesen einen Menschen. Er verstand, wie jemand alles aufgeben konnte – Beruf, Ehe, Kinder, Eltern, Freiheit –, alles für das Objekt seiner Begierde aufs Spiel setzte. Und er verstand auch, warum jemand diesen einen Menschen, für den er lebte, auslöschen wollte. Wie leicht Liebe und Besessenheit die Grenze zu reinem, wahrhaftigem Hass überschreiten konnten.
Sie hatte ihre juristische Ausbildung dazu benutzt, ihn reinzulegen und ans Messer zu liefern. Er würde nie erfahren, wie viel in seinem Prozess Zufall gewesen war und wie viel das berechnende Manöver Dritter. War es reiner Zufall, dass er ausgerechnet in ihrem Gerichtssaal landete nach der illegalen Fahrzeugkontrolle, die der Polizei zum großen Durchbruch verholfen hatte? Jemand hatte ihm damals Anna Prados Leiche in den Kofferraum gelegt. Und dann hatte ein anonymer Anrufer der Polizei den Tipp gegeben, dass sich etwas Interessantes in seinem Kofferraum befand. Steckte Chloe auch dahinter? Wie weit zurück ging ihr Plan, ihn ermorden zu lassen?
Und doch war er zehn Jahre später noch hier und erfreute sich bester Gesundheit. Und dank den ehrgeizigen Bemühungen einer weiteren hübschen Staatsanwältin war er vielleicht bald wieder ein freier Mann.
Sobald er auf freiem Fuß war, würde Bill der Frau einen Besuch abstatten, um die sich seit fast zwei Jahrzehnten all seine Phantasien rankten. Noch einmal würde er sie im Arm halten und ihr sagen, wie sehr er sie liebte … und wie sehr er sie hasste. Dann würden seine Arme sich um sie schließen und ihr den letzten Atemzug aus ihrem einst wohlgeformten Körper quetschen. Und wenn ihre vollen roten Lippen anschwollen und blau wurden, wäre er der letzte Mann auf Erden, der ihr einen Abschiedskuss gab.
Mann, wäre sie überrascht, ihn zu sehen. Der Augenblick würde absolut unbezahlbar sein. Das wäre jedes Risiko wert. Bill würde sich Zeit mit ihr lassen, noch mehr als bei ihrer ersten gemeinsamen Nacht. Diesmal würde er dafür sorgen, dass die Zeit stillstand, dass es sich für sie anfühlte wie eine qualvolle Ewigkeit. Sie würde ihn auf Knien anflehen, ihrem Leben endlich ein Ende zu setzen.
Er lächelte das Bild an und küsste es auf die Wange. Er hatte sie so gezeichnet, wie er sie in seiner uralten Erinnerung sah, obwohl sie wahrscheinlich nicht mehr so aussah. Leider. Ob sie ihre schönen blonden Haare immer noch so langweilig braun färbte? Oder war sie inzwischen vollkommen grau? Zog sie sich immer noch wie eine Lehrerin an, trug konservative dunkle Anzüge und klobige Absätze in der Hoffnung, nicht aufzufallen? Hatten sich tiefe Furchen in ihre ehemals makellose, pfirsichglatte, von der Sonne geküsste Haut gegraben? Versteckte sie ihre smaragdgrünen Augen hinter schlichten braunen Kontaktlinsen? Oder trug sie eine dicke Oma-Brille, damit niemand, der ihr nahekam, die Angst in ihren Augen sah? Er wusste , dass sie Angst hatte. Das war sein Geschenk an sie, das sie für immer mit sich herumtragen würde: Angst. Immer und überall, egal, wie weit sie lief. Denn Chloe Joanna wusste genau, dass sie bis zu dem Moment, da man ihm die Nadel in die Vene steckte und ein Arzt ihn offiziell für tot erklärte, immer damit rechnen musste, dass Bill sie fand. Sie konnte weglaufen, wieder und wieder, eines Tages würde er sie aufspüren – irgendwann. So wie die Mafia Spitzel im Zeugenschutzprogramm aufspürte – irgendwann.
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