Argus #5
zweiundzwanzig der Verhandlungsliste. Bei zwei Fällen pro Seite war unschwer auszurechnen, dass sie, sollte ihrer nicht vorgezogen werden, Toddlers & Tiaras heute Abend vergessen konnte.
«Hallo, Harmony», sagte sie zuckersüß, als sie endlich am Tisch der Gerichtsschreiberin stand. «Wie geht’s? Hat Ihr Mann sich erholt? Ich habe gehört, dass die halbe Behörde mit Grippe im Bett liegt. Dabei haben wir fast Juni. Was ist da bloß los?»
Harmony, die Beamtin, deren Name auch zu einer Stripperin oder einer Rettungsschwimmerin gepasst hätte, starrte Daria verständnislos an, als wäre sie eine völlig Fremde, nicht die Referatsleiterin, die schon Dutzende Male vor ihr im Gerichtssaal gestanden hatte. Und mit der sie sich Dutzende Male unterhalten hatte – offensichtlich allzu oberflächlich. Ihre hervortretenden Augen, mit schwarzem Eyeliner umrahmt wie bei einer Fernseh-Leiche, blinzelten zweimal. Dann fiel der Groschen endlich – zumindest erinnerte sie sich, dass sie einen Mann hatte. «Ach, wieder gut, Gott sei Dank, er ist auf den Beinen. Puh. Keine Grippe mehr. Auf welcher Seite stehen Sie, Schätzchen?»
So viel zum netten Geplauder. «Zweiundzwanzig. Lunders. Talbot Lunders. Ist die Verteidigung schon da?»
Harmony blätterte die Verhandlungsliste durch. «Oh, ja. Schon eine Weile. Aber es sind eine Menge Leute vor Ihnen dran, Staatsanwältin; ich kann Sie nicht vorziehen. Ich setze Sie auf Nummer dreizehn, Schätzchen.» Dann sah sie Daria finster an und hielt den schwarz lackierten Zeigefinger hoch, um sie gar nicht erst zu Wort kommen zu lassen. «Nein, mehr kann ich nicht tun, auch wenn ich weiß, dass es eine Unglückszahl ist. Aber einer muss ja dran glauben.» Harmony seufzte abschließend, bevor sie sich an den nächsten Anwalt wandte. «Auf welcher Seite stehen Sie, Schätzchen?»
Der Nächste, bitte . Es war wie in der Mensa. Widerwillig schloss sich Daria der Meute der Ankläger an. Dreizehn war besser als vierundvierzig, aber es bedeutete immer noch einen langen Nachmittag, auch wenn, dachte sie, als sie den Blick durch den Gerichtssaal schweifen ließ, ihr Ermittler anscheinend sowieso nicht pünktlich war. Dies war ihr erster Fall mit Detective Manny Alvarez vom City of Miami Police Department. Letzte Woche war er fünfundvierzig Minuten zu spät zur Vorprüfung gekommen, mit einer äußerst fadenscheinigen Ausrede. Auch wenn er ihr einen café con leche und ein seltsames, mit rosa Creme gefülltes Gebäckstück mitgebracht hatte, nebst einem Stapel von Berichten, die er immerhin schon geschrieben hatte – was die meisten Ermittler erst zur dritten Offenlegungsaufforderung schafften, und auch dann nur nach lautstarken Drohungen –, sie hatte sich trotzdem maßlos geärgert. Und wenn er heute die gleiche Nummer wieder abzog, wäre sie richtig sauer, selbst wenn er es gerade noch vor den Richter schaffte.
Sie musterte die miesen Typen auf der Geschworenenbank, um zu sehen, ob ihr Angeklagter schon da war. Nein. Nach einem Blick auf sein Polizeifoto, das oben an ihrer Akte klemmte, rechnete Daria damit, dass die Damen im Gerichtssaal kollektiv zu hecheln anfingen, sobald ihn die Vollzugsbeamten durch die Tür führten. Sie fragte sich, ob er in echt auch noch so atemberaubend aussah, nachdem er die letzten paar Wochen in einer Gefängniszelle geschmort hatte.
Auf der Seite der Anklage stand ihre Freundin Lizette an der Wand, die als Staatsanwältin auf häusliche Gewalt spezialisiert war, und winkte zu ihr herüber, als würde sie in der Hauptverkehrszeit ein Taxi rufen. «Wo warst du gestern, Mami ?», fragte Lizette, als Daria sich neben sie quetschte.
«Frag nicht», gab Daria zurück. Die meisten der jungen, unverheirateten Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft hatten den inoffiziellen Sommerbeginn am Montag damit verbracht, im Clevelander in South Beach Mojitos und Sangrias zu schlürfen. Den Kommentaren nach, die sie sich den ganzen Morgen anhören musste, war Daria die Einzige, die gefehlt hatte. «Ich war das ganze Wochenende bei meinem Bruder. Mann, bist du braun geworden! Bist du im Solarium eingeschlafen oder so was, Liz? Du siehst aus wie Snooki aus Jersey Shore .»
Lizette wedelte mit der Hand vor dem Gesicht. «Ich bin Kolumbianerin. Ich muss nur einmal über die Straße gehen, und schon bin ich braun», schoss sie mit spanischem Akzent zurück, der sich immer dann verstärkte, wenn sie emotional wurde oder vor einem spanischstämmigen Richter stand. «Du hast echt was
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