Argus #5

überdimensionierter Präzision die Stunden und Minuten ab. Jedes Mal, wenn sich die Tür zum Gerichtssaal zischend öffnete, sah Daria sich um, ob es Manny war. Doch sie wurde nicht nur fortwährend enttäuscht, sondern auch immer wieder daran erinnert, wie spät es schon war. Er beantwortete ihre SMS nicht und ging auch nicht ans Telefon, und weder sie noch ihr zuständiger Zeugenbetreuer konnte jemanden bei der Mordkommission erreichen, um zu fragen, wo zum Teufel Manny abgeblieben war. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass er zu einem Fall gerufen worden war und sich außerhalb des Funknetzes befand oder dass er irgendwo in einem Krankenhaus im Koma lag, aber Daria erschien es sehr viel wahrscheinlicher, dass ihr ermittelnder Detective die heutige Anhörung völlig vergessen hatte. Oder aber er saß bei einem späten kubanischen Mittagessen und ließ sich alle Zeit der Welt, bevor er vor Gericht erschien, weil er davon ausging, mit dem langsamen Richter Steyn auf der Bank konnte er getrost noch eine Stunde rausleiern, bevor er vermisst wurde.
    Doch er lag falsch.
    «Nächster Fall: Florida versus Talbot Alastair Lunders », verkündete Harmony.
    Zwei schwarz gekleidete Anwälte mit undurchdringlichen Mienen – ein älterer korpulenter Mann und eine attraktive Frau Mitte dreißig – traten aus der Menge der Verteidiger hervor und näherten sich dem Podium. Die Branche der Strafanwälte in Miami war klein; jeder kannte jeden. Die Tatsache, dass Daria diese beiden, die jetzt vor dem Richter standen, noch nie gesehen hatte, machte sie mehr als nur ein bisschen nervös.
    «Joseph Varlack im Namen des Angeklagten Talbot Lunders. Mit mir erschienen ist Anne-Claire Simmons.»
    Varlack . Den Namen kannte sie doch irgendwoher. «Daria DeBianchi für den Staat Florida. Ich dachte, der Angeklagte würde von Les Pfeiffer vertreten», antwortete sie, während sie in der Akte nach Pfeiffers Mitteilung der Einlassung suchte, die sie irgendwo hingesteckt hatte.
    Joe Varlack sah sie lächelnd an. «Nicht mehr. Ich habe heute Morgen den Antrag auf Anwaltswechsel eingereicht.» Er gab ihr ein Blatt Papier. «Hier ist meine Einlassungsmitteilung.»
    Im selben Moment fiel Darias Blick auf die Schuhe.
    Obwohl sie mit ihrem Beamtengehalt nur davon träumen konnte, hatte Daria eine Schwäche für Designerware. Varlacks Begleiterin trug ein Paar schwarze Lackstilettos von Christian Louboutin mit der unverwechselbaren roten Sohle. Dann registrierte Daria Varlacks glänzende manikürte Fingernägel, die die schicke Rolex an seinem Handgelenk perfekt ergänzten. Ihre Bottega-Veneta-Handtasche. Seinen Louis-Vuitton-Aktenkoffer. Die makellose maßgeschneiderte Kleidung, die beide trugen und die, wie Daria als Urenkelin eines legendären Schneiders aus Spoleto sofort sah, italienisch sein musste. Die Lunders aus Palm Beach hatten offensichtlich Anwälte aus Palm Beach angeheuert. Teure Anwälte aus Palm Beach.
    «Sind wir so weit?», fragte der Richter.
    «Der Angeklagte ist unterwegs», erklärte der Vollzugsbeamte. «Zwei Minuten.»
    «Die Verteidigung ist bereit», antwortete Varlack.
    Daria zögerte. «Euer Ehren, ich warte noch auf meinen Ermittler. Vielleicht könnten wir den nächsten Fall vorziehen?»
    Varlack sah demonstrativ auf seine edle Uhr, dann zeigte er damit in Steyns Richtung, als könnte der Richter die Ziffern auf der riesigen Uhr über der Tür nicht sehen. «Euer Ehren, Ms. Simmons und ich sind seit Punkt eins hier. Ich hatte erwartet, dass die Staatsanwältin und ihre Zeugen ebenfalls ab spätestens 13 Uhr 30 hier und bereit wären, der Uhrzeit, die für den Fall anberaumt wurde. Ich habe einen dringenden Termin in Palm Beach, weswegen ich die Gerichtsschreiberin extra gebeten habe, uns heute vorzuziehen, und weswegen wir pünktlich und vorbereitet hier erschienen sind.»
    «Ich verstehe, Mr. Varlack», antwortete Richter Steyn mit einem versöhnlichen Nicken. «Ihre Zeit ist kostbar. Was möchten Sie? Eine Vertagung?»
    In diesem Moment ging Daria ein Licht auf. Joe Varlack. Varlack, Metzer, Shearson & eintausend weitere hart arbeitende Partner, an die sich kein Mensch erinnern konnte. Anwälte gefallener Filmstars, launischer Sportler und korrupter Superreicher. Allein der Vorschuss, den sie nahmen, war höher als ein durchschnittliches Jahreseinkommen. Doch abgesehen von der Kanzlei hätte Daria Joe Varlack aus seiner Zeit beim Fernsehen kennen müssen, als er auf Channel Ten ein Segment der Abendnachrichten