Argus #5
dass Talbot nichts mit dieser schrecklichen Sache zu tun hat und jemand anders der Täter ist – dann sollte Talbot keine fünf Minuten mehr im Gefängnis sitzen müssen. Nicht in dieser Kloake», sagte sie mit angewidertem Schaudern und nickte in Richtung des mächtigen achtstöckigen Betonklotzes vor dem Fenster, in dem das Dade County Jail untergebracht war. «Und Mr. Varlack sagt, es könnte Monate, vielleicht ein Jahr dauern, bis die Hauptverhandlung beginnt. Das ist doch Wahnsinn. Absoluter Wahnsinn! Wie kann das so lange dauern?»
Manny nickte, doch er sagte nichts. Er hatte Mordfälle erlebt, die sehr viel länger als ein Jahr auf dem richterlichen Terminkalender dümpelten, bevor die Geschworenen vereidigt wurden.
«Talbot ist ein guter Mensch. Ich weiß, dass Sie das nicht glauben, ich weiß, Sie wollen es nicht glauben, aber es stimmt. Ich habe gehört, was Sie dadrinnen gesagt haben. Er hatte noch nie Ärger mit der Polizei. Er ist intelligent, und er arbeitet hart. Solche Dinge, wie Sie ihm vorwerfen, würde er nie tun, weil er es, ehrlich gesagt, nicht nötig hat. Er muss Frauen keine Drogen in den Drink mixen, damit sie mit ihm nach Hause gehen oder mit ihm schlafen. Sehen Sie ihn sich doch an. Mit achtzehn war er Model und ist in Mailand und Paris über die Laufstege gelaufen. An hübschen Freundinnen hat es ihm nie gemangelt.» Sie zeigte auf den Ordner mit der Aufschrift Florida vs. Lunders , der auf Darias Schreibtisch lag. «Und ich rede hier von wirklich schönen Mädchen. Ohne der Toten zu nahe treten zu wollen.»
Manny widerstand dem Impuls, die Augen zu verdrehen. «Wir wollen nichts überstürzen, Mrs. Lunders. Vergewaltigung ist kein Verbrechen aus Leidenschaft, und die Tatsache, dass Ihr Sohn mühelos attraktive Frauen ins Bett kriegt, juckt mich wenig. Sehen wir uns mal an, was man Ihnen geschickt hat.»
In diesem Moment kam Daria zurück und hielt den USB-Stick hoch.
«Haben Sie es sich angesehen?», fragte Manny.
«Noch nicht.» Sie schob den Stick in ihren Laptop.
«Es ist das Einzige, was darauf ist», bemerkte Abby leise. «Der USB-Stick ist nagelneu. Ich habe nur die E-Mail kopiert und den Anhang heruntergeladen.»
Es wurde nur eine Datei angezeigt. Eine E-Mail mit dem Betreff «SIEH MICH AN», an die eine .mp4-Share-File angehängt war. Daria klickte die Datei an und startete damit ein Video.
Eine junge Frau hing, an den Handgelenken gefesselt, von einer niedrigen Balkendecke in einem schwarzen Raum. Das schwarze Seil war an einer Öse über ihrem Kopf befestigt. Sie trug nur einen dünnen durchsichtigen BH und einen Slip, doch der BH war vorne aufgeschnitten und entblößte ihre Brüste. Sie baumelte in der Luft, drehte sich, die nackten Zehen berührten kaum den glatten Zementboden, über dem sie wie ein Besen hin und her schwang.
Ihr Kopf hing herunter, das honigblonde Haar, strähnig und verschwitzt, bedeckte vollständig ihr Gesicht. Ihr Haar, der kompakte, sportliche Körperbau und das, was sie am Leib trug, ließ Daria zuerst glauben, es handelte sich um Holly Skole. Dann kam eine schwarz behandschuhte Hand ins Bild und strich der jungen Frau das Haar hinters Ohr, sodass die Hälfte ihres Gesichts sichtbar wurde, und Daria erkannte, dass es nicht Holly war. Im Mund der Frau steckte eine hautfarbene Nylonstrumpfhose, deren leere Beine mehrmals um ihren Kopf gewickelt und im Nacken verknotet waren. Hinter ihr auf einem Metalltisch lagen Spritzen, Gaze, mehrere Fläschchen mit verschiedenfarbenen Flüssigkeiten, eine halbvolle Nachfüllflasche Fensterputzmittel, eine Flasche Abflussfrei und schwarzes Isolierband. Das Bild wackelte und bewegte sich. Es war offenbar eine Handkamera.
Die junge Frau blickte auf, und ihre verängstigten blauen Augen weiteten sich. Ein gedämpftes Winseln kam aus dem Computer. Erst da merkte Daria, dass eine Tonspur mitlief. Die Frau schüttelte heftig den Kopf, um etwas außerhalb des Blickfelds der Kamera auszuweichen, ihre Augen traten hervor und bewegten sich hektisch. Ihr Körper zuckte und drehte sich, als würde sie Marathon laufen.
Aber sie kam nicht vom Fleck. Sie kam nirgendwohin. Die Hand tauchte wieder auf, und diesmal hielt sie eine Küchenschere.
Das Video hielt an, und das Bild erstarrte. Der letzte Frame zeigte das panische Gesicht der Frau, als der nackte, muskulöse Rücken eines Mannes ins Bild kam, in einer Hand die Schere, in der anderen eine langstielige rote Rose. Der ganze Clip hatte weniger als eine Minute
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