Argus #5
nicht, dass es in einem Radius von fünfzig Kilometern rund um das Wohnheim acht verschiedene Strafanstalten gibt – zwei davon Hochsicherheitsgefängnisse mit Todestrakt. Meine Mutter ist ausgerastet», fuhr Daria nachdenklich fort. «Sie hat mein Zimmer auseinandergenommen, weil sie dachte, ich hätte ihr die Information absichtlich verschwiegen. Als ich im ersten Jahr Weihnachten nach Hause kam, lagen meine Bücher, Bilder, Vorhänge und Decken in kleinen Fetzen auf dem Boden.»
«Das ist extrem.»
«Ja. Na ja. Sie ist extrem. Sie wollte, dass ich zu Hause bleibe und zur University of Miami gehe, damit ich mich um sie kümmern kann. Von wegen, sie macht sich Sorgen um mein Wohlergehen wegen der Bösewichte in der Nachbarschaft – das war alles ein Haufen gequirlter Scheiße. Sie hat es mir einfach nicht gegönnt.»
«Und, hatte sie recht?»
«Bitte?»
«Haben Sie Ihrer Mutter wirklich verschwiegen, dass die Uni im Epizentrum von Floridas schlimmsten Gefängnissen steht?»
«Natürlich. Aber ich hätte es niemals noch drei Jahre zu Hause ausgehalten. Bei uns in der Familie herrscht nicht das gesündeste Klima, wie Sie vielleicht ahnen. Anders als der Rest meiner Klasse konnte ich es kaum abwarten, endlich mit dem Jurastudium zu beginnen. Ich habe mir alles über Studienkredite selbst finanziert, also halten Sie mich nicht für undankbar. Irgendwann hat meine liebe Mutter ihre Wut dann runtergeschluckt und erwärmte sich für die Idee, vor all ihren Freundinnen damit anzugeben, dass aus ihrer Tochter mal eine hochbezahlte, tolle Anwältin werden würde.»
Manny lächelte. «Und von allen Berufen, die Sie sich als Juristin hätten aussuchen können, sind Sie zur Staatsanwaltschaft gegangen, wo Sie den ganzen Tag mit Verbrechern rumhängen und lausig bezahlt werden – nur um Ihrer Mutter eins auszuwischen, richtig?»
«Ja. Bei Familientreffen haben wir uns nicht viel zu sagen.»
«Das nennt man passiv-aggressives Verhalten. Sollte ich mir merken.»
Eine lange, peinliche Pause entstand. Daria hatte viel zu viel von sich erzählt. «Ich war noch nie im Todestrakt», sagte sie. «Muss ich irgendwas wissen oder irgendwas beachten?»
Das klang so unerfahren. Aber sie wurde die gruselige Szene aus Schweigen der Lämmer nicht los, als Clarice Starling vor Hannibal Lecter gewarnt wird: Treten Sie nicht zu nah an die Scheibe. Schieben Sie alle Papiere durch die Schublade. Sagen Sie ihm nichts über sich selbst. Es war zwar nur ein Film, aber …
Manny stand auf und ging zur Tür. Er bereute die Entscheidung jetzt schon. «Montag ist Nationalfeiertag, also würde ich sagen, Dienstag, der fünfte. Ich will um acht auf dem Highway sein. Am besten hole ich Sie hier ab.»
«Ich werde bereit sein.» Daria lächelte.
«Das hoffe ich», antwortete er, bevor er das Büro verließ. Doch nach ihrer letzten Frage wusste er, wie falsch sie damit lag.
18
D er Vollzugsbeamte drückte einen Schalter, und die Tür zum Verhörraum des Dade County Jail glitt auf. Hinter Manny ging die Tür laut scheppernd wieder zu, worauf sich eine zweite Tür vor ihm öffnete. Auch diese schob sich scheppernd zu, nachdem er eingetreten war, und schloss ihn ein in einem mintgrünen Raum, in dem es nach Schimmel und Urin stank, obwohl weder eine Toilette noch ein Wasseranschluss vorhanden waren.
Anne-Claire Simmons und ihr Mandant saßen bereits an einem Metalltisch, der am Boden festgenietet war. Die drei Metallstühle, die um den Tisch standen, waren an die Tischbeine gekettet. Nur Talbot Lunders selbst war weder angekettet noch gefesselt. Keine Handschellen, keine Fußschellen, keine sonstigen Einschränkungen. Der angeklagte Mörder konnte sich frei im Raum bewegen. Er konnte zwar die Möbel nicht stehlen, aber er konnte seine Anwältin mit bloßen Händen erwürgen, wenn er wollte. Manny hatte Hunderte von Angeklagten in diesem Raum verhört, und er erinnerte sich an keinen einzigen, der nicht wenigstens Handschellen getragen hätte. Die Ausnahme störte ihn. Anscheinend galten für gutaussehende, privilegierte weiße Mörder andere Gesetze.
«Guten Tag, Detective», begann Anne-Claire Simmons ernst. «Wird Ms. DeBianchi auch dazukommen?»
«Nein. Was ist mit Mr. Varlack?»
«Leider hatte Mr. Varlack einen Termin in Palm Beach, den er nicht verschieben konnte. Doch er wusste, dass Sie etwas auf dem Herzen haben, also hat er mich geschickt. Mr. Lunders und ich sind ganz Ohr.»
Zuhören, ohne befugt zu sein, Entscheidungen zu
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