Argus #5
traurigerweise trotzdem nicht mehr gab, oder weil Bantling bekam, was er verdiente, auch wenn er vielleicht nicht für das Verbrechen verurteilt worden war, das er begangen hatte: Trug Manny dann Schuld an den Morden, die folgten? Die von Morpheus ermordeten Polizisten, sie hatten alle etwas auf dem Kerbholz gehabt, sie konnte er in eine andere Schublade stecken. Aber Holly Skole, Gabriella Vechio, Cyndi DeGregorio, die Unbekannte aus dem Baseball-Stadion, Kevin Flaunders – würden sie noch leben, wenn Manny damals auf sein Bauchgefühl gehört hätte, das ihm sagte, es stecke mehr hinter der Snuff-Club-Geschichte als ein Haufen verzweifelter Lügen?
Er stellte die leere Flasche Corona zu den anderen drei, die er getrunken hatte. Das Problem mit dem Alkohol war, er wirkte wie ein Wahrheitsserum. Manny hatte zu viel getrunken, und doch nicht genug, um zu vergessen, was ihm durch den Kopf ging. Er hatte das Hologramm erkannt, und von jetzt an würde er immer das Bild sehen, das er vorher nicht hatte sehen wollen. Es hing direkt vor seiner Nase. Jetzt konnte er es nicht mehr übersehen.
Mannys einzige Hoffnung war, dass er sich irrte. Dass er am Dienstag, wenn er dem manipulativen Psychopathen Bantling gegenübersaß, ein paar Fragen stellen würde, die er längst hätte stellen sollen, und dann endlich restlos überzeugt wäre, dass Bantlings Geschichte von Rache und Snuff-Clubs nicht mehr war als das: eine Geschichte. Eine Geschichte, die weder bekräftigt noch bewiesen werden konnte, weil sie einfach nicht stimmte. Ein Märchen, mit dem Bantling seinen Arsch retten wollte. Dann könnte Manny sich endlich wieder um die Ermittlungen gegen Talbot Lunders kümmern – seinerseits ein angehender Psychopath, wie er im Buche stand –, einen möglichen Komplizen oder mehrere aufspüren und den jungen Schönling in eine Zelle neben Bantling verfrachten.
Er dachte daran, wie merkwürdig Talbot auf die Erwähnung von Bantlings Namen reagiert hatte.
Vielleicht kannten sie einander schon …
Der Gedanke jagte Manny einen Schauer über den Rücken.
Er legte zwei Zwanziger auf die Theke und winkte der hübschen Barkeeperin zu. Hoffentlich, dachte er, als er die Gänsehaut abzuschütteln versuchte und zur Tür ging, würde er die böse Vorahnung ein für alle Mal loswerden. Hoffentlich konnte er am Dienstag um diese Zeit die verstörenden Gedanken für immer verbannen, die seit viel zu langer Zeit in seinem Hinterkopf nagten.
23
A uf der State Road 16 passierten sie schlichte Backsteinhäuser, vor denen Lorbeereichen und Schaukeln standen, dahinter das Zickzack von Wäscheleinen. Kinder fuhren in langen Einfahrten mit Skateboards herum, und auf grünen Weiden grasten Pferde. In den angrenzenden Orangenhainen hörte man Traktoren. Der Duft von frisch gemähtem Gras hing in der Sommerluft. Nur die silberhaarige Großmutter, die auf einer windschiefen Veranda selbstgemachte Limonade und Apfelkuchen servierte, fehlte noch zur Norman-Rockwell-Idylle einer amerikanischen Kleinstadt. Wie Daria zu Manny gesagt hatte, als sie vom Highway 301 auf die State Road fuhren: Wenn man nicht wusste, dass man auf dem Weg nach Jail City war, käme man nicht auf die Idee, dass man auf dem Weg nach Jail City war. Der einzige Hinweis darauf, dass sich die demographische Lage änderte, und zwar nicht zum Guten, waren die relativ unauffälligen Schilder, die hin und wieder am Straßenrand auftauchten und die Vorbeifahrenden davor warnten, Tramper mitzunehmen. Ein paar Kilometer weiter wurden sie von Rauten in Neonorange abgelöst, auf denen stand: STRAFGEFANGENE BEI DER ARBEIT. Wenn man eins und eins zusammenzählte, war es nicht schwer zu durchschauen, dass sie sich nicht mehr in der Norman-Rockwell-Idylle befanden. Und selbst wenn man nicht gut im Rechnen war, die mehrzeilige Anzeigetafel an der nächsten Abzweigung beseitigte die letzten Zweifel:
→ LAWTEY CORRECTIONAL INSTITUTION, 10 km
← UNION CORRECTIONAL INSTITUTION, 29 km
→ NEW RIVER CORRECTIONAL, 17 km
← FLORIDA STATE PRISON, 18 km
← REZEPTION UND MEDIZINISCHES ZENTRUM (RMC), 8 km
← REZEPTION UND MEDIZINISCHES ZENTRUM (RMC) WEST, 7 km
Die vierstündige Fahrt nach Starke war ganz entspannt verlaufen. Nur die erste halbe Stunde war seltsam verkrampft gewesen, eher wie beim ersten Date, dachte Daria, als auf der nüchternen Dienstreise zur Vernehmung eines Serienmörders. Sie und Manny hatten höflich über das Wetter und den schrecklichen Verkehr in Miami geredet,
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