Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
atmete tief ein, bevor sie den Klingelknopf unter dem Schild drückte. »New Model Agency. Dortmund – Las Vegas – Nicosia.« Keine zwei Sekunden später ertönte ein Summen, und die schwere Eisentür ließ sich aufdrücken.
Das Treppenhaus war schmutzig und die alten Holztreppen in der Mitte ausgetreten. Lila hielt sich an dem blau gestrichenen Geländer fest, als sie hinaufstieg, weniger wegen der abgenutzten Stufen als wegen des Schwindelgefühls, das sie in dem Moment übermannt hatte, als ihr klar wurde, was sie hier tat. Die Tür im ersten Stock stand offen. Lila ging hinein und fand sich inmitten eines riesigen Fotostudios wieder. Überall hingen Stoffbahnen an Traversen von den Decken, und im hinteren Teil des Raumes blitzte es hell. Eine anscheinend von Kopf bis Fuß tätowierte junge Frau kam auf sie zu. Sie war klein und sah nicht besonders freundlich aus.
»Bist du die Marie?«, fragte sie.
Lila schüttelte den Kopf, weil sie den Sinn der Frage ahnte. »Liliana«, sagte sie.
»Ach so. Hast du ’nen Termin?«
Lila zuckte mit den Achseln.
»Dann kann ich dir auch nicht helfen«, sagte sie. Lila hatte keine Ahnung, was sie meinte. Sie verschwand mit ihrem Block hinter einem der Vorhänge. Vorsichtig setzte Lila einen Schritt in den großen Raum. An einer der Wände hingen kleine Kästen aus Plexiglas mit Bildern von Frauen und einigen Männern. Es mussten über hundert sein. Offenbar handelte es sich um eine große Modelagentur. Immerhin hatte sich Lila bei dem Schild nicht getäuscht. Zwei Frauen in Bademänteln liefen an ihr vorbei und verschwanden in Richtung der Blitzlichter zwischen dem Stoff. Ungefähr in der Mitte der Wand mit den Fotos stand ein großer Schreibtisch, hinter dem ein Mann große Bildbögen mit einer Lupe betrachtete. Lila beschloss, ein Risiko einzugehen, und lief zu ihm. Als er Lilas Schritte auf dem geschwärzten Betonboden hörte, sah er verärgert auf. Er musterte Lila von Kopf bis Fuß, dann lächelte er. Es tat gut, dass jemand lächelte, wenn er sie sah, dachte Lila.
»Hast du einen Termin?«, fragte er.
Lila erinnerte sich daran, dass es ähnlich klang wie etwas, das die junge Frau sie beim Reinkommen gefragt hatte. Diesmal nickte sie und sagte: »Liliana«, und gab ihm die Hand. Er hatte schöne Hände, groß, aber ohne Schwielen. Es waren Hände, die niemals hatten schwer arbeiten müssen.
»Setz dich, Liliana«, sagte er und deutete mit der Hand auf einen Stuhl. Er wühlte in einem Stapel Papier, das auf seinem Schreibtisch lag, und murmelte vor sich hin.
»Nic!«, rief er schließlich. »Nic, wo ist das Zeug von Liliana?« Lila war klar, dass er ihre Papiere suchte. Aber sie hatte keine Papiere.
Die junge Frau tauchte hinter einem Vorhang auf, bewaffnet mit ihrem Klemmbrett.
»Was machst du denn noch hier?«, fragte sie und zog Liliana vom Stuhl. »Tschuldige, Derek. Wieder eine von denen, die es einfach versuchen.« Sie zog Lila hinter sich her.
»Bild dir bloß nicht ein, dass du hier so einfach reinlaufen kannst«, fauchte sie. »Es gibt genug von euch jungen Dingern, die in die Branche wollen.« Sie schob Lila bis vor die Tür ins Treppenhaus. Man musste kein Deutsch sprechen, um zu verstehen, dass Lila hier nicht erwünscht war, ohne einen Termin und ohne Papiere. Sie setzte sich auf die hölzerne Treppe mit den abgenutzten Stufen, ganz an den Rand, und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Was sollte sie jetzt tun? Und auf einmal sah sie in der Dunkelheit zwischen ihren Fingern das Gesicht der alten Frau von dem Roma-Markt in Drochia. Die ihre Hände in eine Schale mit Wasser tauchte, nachdem sie ihnen das Kleid verkauft hatte. Und die versprach, dass diejenige, die das Kleid trug, eine Königin werden würde. Lila erschrak, obwohl sie wusste, dass sie sich die Alte nur eingebildet hatte. Warum sah sie die alte Frau gerade jetzt wieder? Versuchte Ioana, ihr eine Botschaft zu schicken? Alles hat seinen Preis, hatte die alte Frau prophezeit. Ioana, ich hoffe, es geht dir gut, sandte Lila ein Stoßgebet zum Himmel. Und ich gebe nicht auf, ich verspreche es.
KAPITEL 72
München, Deutschland
Montag, 29. Juli 2013, 9.28 Uhr (zur gleichen Zeit)
»Er wollte mich sprechen?«, fragte Paul Regen.
Klaus Wochingers Sekretärin deutete mit einem Filzmarker an die Decke: »Ja, schon. Aber oben.«
»Oben?«, fragte Paul Regen verwundert.
»Im Büro vom Präsidenten«, sagte sie zum Quietschen des Filzmarkers, als sie einen Namen auf dem Dienstplan
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