Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
Arme und Beine an den Karabinerhaken festgezurrt waren, in ihr Fleisch schnitten. Beim zweiten Mal hatte sie es geschafft, mehrere Stunden durchzuhalten, bis sie die Schmerzen übermannt hatten. Dieses Mal würde sie es besser machen, damit er nicht wieder mit dem feuchten Lappen kam, dem Chloroform. Ioana durfte nicht einschlafen. Sie musste kämpfen. Andernfalls war sie verloren.
Im Dunkel unter der Decke dachte Ioana an Lila. Ob sie nach ihr suchte, wie sie es versprochen hatte? Aber wie sollte Lila sie finden, wo sie selbst nicht einmal wusste, wo sie war? Es gab keine Hoffnung. Es würde kein Retter kommen. Sie war alleine mit dem Mann, der sie gekauft hatte. Er nannte sie seine Königin, aber er fesselte sie auf die Ladefläche seines Lieferwagens. Er gab ihr zu essen und redete wirres Zeug, das sie nicht verstand, und er deutete zu den Sternen und sah sie dabei an, als hätte er ihr die Welt erklärt. Aber er betäubte sie, damit sie nicht weglaufen konnte. Er war nicht mehr jung, seine Haut an den Händen fleckig, das Gesicht faltig. Aber trotz seines Alters wirkte er kräftig, doch irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Sein Geist schien besessen von einem fremden Dämon, der nichts Menschliches kannte. Vielleicht war das Ioanas einzige Chance. Seine einzige Schwäche. Sie musste mehr über ihn herausbekommen, über ihn und seinen Dämon. Wenn es ihr gelang, seinen Dämon zu verstehen, könnte sie ihn möglicherweise gegen ihn verwenden. Und dafür durfte sie auf keinen Fall mehr schreien oder weinen. Er durfte sie nicht mehr betäuben. Sie musste ihm gefallen, damit er sie an dem teilhaben ließ, was er mit ihr vorhatte. Bevor er es in die Tat umsetzte. Ioana spürte, wie der Wagen bremste. Der Motor erstarb. War es wieder nur ein Zwischenstopp wie die letzten vier Male? Würde er wieder neben ihr sitzen, ihr Käsebrocken in den Mund stopfen und vom Himmel faseln? Ioana sammelte alle ihre Kräfte und ignorierte die Schmerzen, als er die Seitentür des Busses öffnete.
»Wie geht es meiner Königin?«, hörte sie seine Fistelstimme. Er zog die Decke von ihrem Kopf, und Ioana starrte in seine rastlosen Augen, die ständig hin und her wanderten wie zwei unruhige Seelen. Ioana nahm allen Mut zusammen und versuchte zu lächeln. Trotz der Schmerzen an ihren Gelenken, trotz der Angst. Sie musste mit ihm reden, einen Draht zu ihm aufbauen. Und da er sie nicht verstand, blieb ihr nur die universellste aller Sprachen. In diesem Moment schien es ihr die schwerste von allen zu sein. Ioana spürte, wie sich in ihren Mundwinkeln kleine Fältchen bildeten, als sie ihren Wangenmuskeln befahl, sich zusammenzuziehen. Sie betete zum ersten Mal seit vielen Jahren. Es war ein kurzes Gebet in Richtung des Mondes, der über seinem Kopf am Firmament stand. Herr, gib, dass er mich versteht. Sie spürte, wie ihre Beine zu zittern begannen, spürte, wie ihre Kräfte nachließen. In diesem Moment sah sie seine Zähne. Sie waren verfault und hatten schwarze Ränder. Aber er lächelte. Dann löste er ihre Fesseln und stützte sie, als sie aus dem Wagen krabbelte. Es waren die ersten Schritte nach einer langen Zeit auf dem harten Boden des Busses. Sie setzte einen wackeligen Fuß vor den nächsten. Etwa zwanzig Meter entfernt stand eine baufällige Scheune unter einer großen Zypresse. Drumherum war nichts als Dunkelheit, nur die Grillen zirpten in der Nacht. Ioana hörte, wie er die Tür des Lieferwagens zuzog und hinter sie trat.
»Meine Königin!« Seine auswendig gelernten Worte in ihrer Sprache. Sie mussten eine tiefere Bedeutung für ihn haben, wenn er sich so viel Mühe gab. War dies das Schicksal, das die alte Frau auf dem Marktplatz in Drochia prophezeit hatte? War dies der Preis für das Kleid? Hatte Lila doch recht gehabt, dass die Hexe es verflucht hatte? Ioana stolperte auf das Scheunentor zu.
KAPITEL 74
München, Deutschland
Dienstag, 30. Juli 2013, 11.38 Uhr (am nächsten Tag)
»Mein Kollege aus Amsterdam landet um vier, der aus Warschau um Viertel vor fünf. Meinen Sie, wir können die abholen?«, fragte Solveigh, während hinter ihr jemand mit dem Dreibein eines Flipcharts hantierte. Sie stand im Vorzimmer von Paul Regens Büro. Seine Mitarbeiterin, eine ältere Kriminalhauptmeisterin namens Adelheid Auch, saß mit verschränkten Armen hinter ihrem Schreibtisch und beobachtete den Trubel mit einem skeptischen Blick über ihre Lesebrille.
»Was, mit dem Auto?«, fragte Paul Regen.
»Mit was denn sonst?«, fragte
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