Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
in das Stammgebiet der ’Ndrangheta zurückgezogen hatte, die Berge von Kalabrien. Er wäre nicht der erste Mafiaboss, dem es gelang, in dem undurchdringlichen Geflecht aus persönlicher Loyalität der Bewohner, der rauen Landschaft mit den vielen alten Ruinen abzutauchen. Viele von ihnen lebten Jahrzehnte, ohne dass die Carabinieri ihnen jemals auf die Spur kamen. Auch das war ein Ergebnis ihrer Ermittlungen. Und ihres eigenen Fehlers.
»Mir ist wirklich nicht nach Feiern zumute«, sagte Solveigh. »Hast du die Akte von diesem Münchner Kommissar gelesen? Über die Leichen?«
»Ich habe gehört, du bekommst die Medaille«, sagte Eddy. »Für ELMSFEUER.«
»Ich pfeife auf eine Medaille, die danach im Safe verschwindet, weil keiner wissen darf, wofür sie verliehen wurde«, sagte Solveigh. »Hast du jetzt das Zeug von dem Regen gelesen oder nicht?«
Eddy seufzte: »Habe ich.«
»Und was hältst du davon?«
Sie hörte, wie Eddys Maus klickte. Er hatte es noch nicht gelesen und glaubte, dass er damit durchkam, wenn er das während des Telefonats nachholte.
»Keine Ahnung«, sagte Eddy. »Gib mir mal fünf Minuten, okay?« Ohne eine Antwort abzuwarten, beendete er die Verbindung.
Solveigh scrollte weiter durch Paul Regens Personalakte und versuchte, den Mann, den sie gestern Abend kennengelernt hatte, mit dem in Einklang zu bringen, was dort über ihn geschrieben stand. Sicher, er war kein konventioneller Polizist. Sein Auftreten grenzte an Arroganz, und das, obwohl er lebensmüde wirkte. Nicht wie jemand, der sich tatsächlich umbringen würde, sondern im eigentlichen Wortsinn. Solveigh fand ihn dennoch recht amüsant, und als er über die Toten sprach, hatte sie neben ehrlichem Bedauern auch einen Funken in seinen Augen entdeckt, über den nur die besten Ermittler verfügten. Ihre Einschätzung von Paul Regen deckte sich nicht mit der seiner Vorgesetzten.
Bis zum Sommer des Jahres 2005 war Paul Regens Leben vielversprechend verlaufen. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er als verdeckter Ermittler bei der Münchener Sitte. Er war mehrmals befördert worden, seine Karriere war auf einem guten Weg gewesen. Bis zu dem Tag im Juni, an dem alles aus dem Ruder gelaufen war. Das Ergebnis war ein erschossener Zuhälter, eine junge Frau, die angab, von einem Polizisten zu einer Aussage genötigt worden zu sein, und zwei verletzte Gäste eines Nachtklubs am Stahlgruberring. Sein damaliger Partner im Präsidium, ein Kriminalhauptkommissar Klaus Wochinger, hatte später zu Protokoll gegeben, dass er sich in jener Nacht nicht wohlgefühlt habe und früher nach Hause gefahren war. Paul Regen hatte angegeben, weder den Zuhälter erschossen noch die junge Frau zu einer Aussage genötigt zu haben, und ansonsten zu dem Vorfall geschwiegen. Offenbar waren weder Paul Regens noch Klaus Wochingers Dienstwaffe tatverdächtig in dem Zuhältermord, sodass die Ermittlungen ergebnislos eingestellt wurden. Und dennoch war Paul Regen seit diesem Tag nicht mehr befördert worden. Kriminalhauptkommissar Wochinger hingegen ging kurz darauf zu einer Fortbildung auf die Polizeiakademie in Münster, um die Qualifikation für den höheren Dienst zu erlangen. Er machte Karriere und war, wie Solveigh zu ihrer Bestürzung feststellen musste, heute sogar der Vorgesetzte von Kriminalhauptkommissar Paul Regen. Beide hatten später zum Bayerischen Landeskriminalamt gewechselt. Paul Regen vermutlich, um die Scharte des Vorfalls endlich loszuwerden, Klaus Wochinger möglicherweise aus Karrieregründen. Überhaupt schien die Episode am Kriminaldirektor Wochinger abgeperlt zu sein wie das Regenwasser an einer Lotosblüte.
Für Solveigh stank die Geschichte zum Himmel. Der eine sagt nichts, der andere verzieht sich zu einer Weiterbildung ausgerechnet nach einem solchen Vorfall. Warum hatte Paul Regen geschwiegen? Hatte er den Zuhälter erschossen? Oder hatte doch der Polizeidirektor seine Finger im Spiel? So oder so war überdeutlich, dass diese Juninacht Paul Regen seine Karriere gekostet hatte. Er hatte als einer der talentiertesten Ermittler gegolten, er hatte sich sogar – kurz vor dem Zwischenfall – beim Bundeskriminalamt beworben. Ihr Handy klingelte.
»Wieso nimmst du im Chat nicht ab?«, fragte Eddy.
»Entschuldige, ich war abgelenkt«, sagte Solveigh. »Hast du das vom Regen nun endlich gelesen?«
»Habe ich. Und ich glaube, da ist etwas dran.«
»Im Ernst?«, fragte Solveigh. »Was hast du herausgefunden?«
»Erst fand ich die Story
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