Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
Schließlich überreichte der Mann, der an dem Lieferwagen auf sie gewartet hatte, dem anderen einen Umschlag. Der Italiener winkte, und sein Boss betätigte einen Schalter. Das Schloss in der Tür neben ihr klackte. Der Mann, der sie zuvor niemals direkt angesehen hatte, drehte sich zu ihr um. Er machte eine scheuchende Handbewegung und deutete auf die beiden Gestalten am Lieferwagen.
»Go, go, go!«, sagte er. Ioana verstand. Bevor sie die Tür öffnete, warf sie einen Blick nach draußen. Jenseits des Parkplatzes lag ein Weizenfeld. Wenn sie es bis dorthin schaffen könnte, hätte sie vielleicht eine Chance. Das Treffen auf dem Parkplatz hatte sie jeder Illusion beraubt. Von hier ab ging es nicht weiter bergauf, sondern steil nach unten. In dem Umschlag musste Geld gewesen sein. Die Italiener hatten sie an den Mann mit dem Lieferwagen verkauft, und Gott allein wusste, was er mit ihr vorhatte. Ioana öffnete die Tür mit spitzen Fingern.
»Go, go, go!«, sagte der Italiener auf dem Beifahrersitz. Er klang ungeduldig. Vermutlich hatte er das Geschäft nicht mehr abschließen wollen, sich aber von dem anderen überzeugen lassen. Die langen Halme des Weizenfelds würden ihr wenig Schutz bieten. Aber besser als gar keinen. Ioana rannte los. Ihre Beine waren müde vom langen Sitzen, und ihre Sehnen wehrten sich gegen die plötzlichen Kontraktionen.
»Ioana!«, rief der Mann mit dem kaputten Bein. Er würde ihr nicht folgen können. Sie rannte an dem Toilettenhäuschen vorbei und stolperte eine Böschung hinunter. Noch zehn Meter! Lauf, Ioana! Dann krachte ein Schuss durch die Nacht. Er war lauter als alles, was Ioana bisher gehört hatte. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun? Was nützten ihr die einen Meter fünfzig hohen Weizenhalme, wenn sie auf sie schossen? Was könnte schlimmer sein, als hier zu sterben? In einem fremden Land? Nichts konnte schlimmer sein. Sie blieb stehen und hob die Hände. Ein Reflex. Als ob sie unter ihrem Kleid eine Waffe hätte verstecken können. Ioana starrte auf das Weizenfeld und bemerkte, dass sie zitterte. Sie vermisste Lila. Sie hätte gewusst, was zu tun ist. Und wenn Lila hier wäre, wäre sie wenigstens nicht allein. Sie roch etwas Metallisches, als sie spürte, wie jemand von hinten an sie herantrat. Es war keiner der beiden Italiener. In diesem Moment hörte sie, wie auf dem Parkplatz ein Motor gestartet wurde. Sie war alleine mit ihrem neuen Besitzer.
»Hallo, meine Königin«, sagte er. Auf Rumänisch. Es klang nicht so, als ob er die Sprache beherrschte. Mehr, als hätte er nur diesen Begriff in einem Wörterbuch nachgeschlagen. Was hatte das zu bedeuten? Meine Königin? Seine Hände zitterten noch stärker als Ioanas Knie, als er sie an den Schultern berührte. Dann spürte sie einen weichen Schwamm auf ihren Lippen, und ein süßlicher Geruch nach Lösungsmitteln stieg ihr in die Nase. Kurz darauf verlor sie das Bewusstsein.
KAPITEL 70
Hallbergmoos, Deutschland
Sonntag, 28. Juli 2013, 13.38 Uhr (neun Stunden später)
Solveigh Lang saß in der Vielfliegerlounge des Flughafens und wartete auf ihren Abflug nach Amsterdam-Schiphol. Auf ihrem Laptop scrollte sie durch die Personalakte von Kriminalhauptkommissar Paul Regen, als sie ein grünes Signal in dem internen Chatprogramm der ECSB bemerkte. Sie griff nach den Ohrstöpseln, die wie immer verknotet in ihrer Handtasche steckten.
»Eddy, was gibt’s?«, fragte Solveigh und versuchte das Kabelgewirr zu entflechten.
»Ich sehe, du bist schon am Flughafen«, sagte er. »Das ist gut.«
»Warum?«, fragte Solveigh.
»Du denkst an die Feier heute Abend?«, erinnerte sie ihr Kollege. Die Ermahnung kam nicht von ungefähr. Solveigh war nicht nach Feiern zumute, solange sich Matteo Taccola weiterhin auf der Flucht befand. Zwar war es ihnen gelungen, über fünf Milliarden Euro der Taccolas einzufrieren, was darauf hinauslief, dass fast alle der von ihnen kontrollierten Firmen pleite gehen würden, aber Solveigh nahm es persönlich. Ja, Adriano Taccola, das Oberhaupt der Familie, war verhaftet worden, ebenso sein Finanzchef. Ja, sie hatten über vierhundert verschleppte Frauen aus der Obhut ihrer Entführer befreit, über fünfzig davon Minderjährige. Es war ein großer Erfolg für die ECSB. Ja, ja, ja. Aber sie hatten ebenden Mann entwischen lassen, der den Befehl gegeben hatte, ihre Kollegen zu töten. Solveigh hatte ihn entwischen lassen. Den Mann, der hinter den Attentaten steckte. Sie vermuteten, dass er sich längst
Weitere Kostenlose Bücher