Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
kennst ihn doch gar nicht«, sagte Ioana. »Und ich übrigens auch nicht. Also kaum. Ich habe ihn vielleicht sechsmal gesehen bei den Familienfesten. Früher.«
»Und, sieht er gut aus?«
Ioana seufzte und griff nach dem roten Nagellack. Sie hielt ihn skeptisch gegen die Lampe über dem Esstisch von Lilas Großeltern: »Wie oft hast du mich das schon gefragt, seit du weißt, dass er kommt? Neun Mal?«
»Vergiss es einfach«, sagte Lila und hielt ihr die Hand hin. Sie konnte es immer noch nicht glauben, dass sie sich wirklich darauf eingelassen hatte. Das Mittsommerfest, das im Gegensatz zu den nordischen Ländern schon einen Monat früher und an wechselnden Wochenenden gefeiert wurde, war das wichtigste gesellschaftliche Ereignis des Jahres in Iliciovca. Zwei Tage dauerten die Festivitäten, und die Wahl zur Königin war der Höhepunkt am Samstagabend.
»Hier, probier, ob es passt«, stolperte ihre Großmutter in den Raum. Sie hatte die traditionelle Tracht von ihrer Mutter für Lila umgenäht, da ihr das Kleid viel zu groß war. Bei der Wahl zur Mittsommerkönigin des Ortes wurden zwei Outfits erwartet. Zuerst das traditionelle, zu dem die Mädchen Blumen im Haar trugen und mit dem alle Teilnehmerinnen in das Gemeindezentrum einziehen würden, und ein zweites für das Finale. Falls sie es tatsächlich bis dahin schaffte, würde sie das neue tragen. Das sie zu einer Königin machen würde, wenn die Prophezeiung der Alten aus Drochia stimmte.
»Danke, Bunică«, sagte Lila und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Dabei lächelte die alte Frau wie ein Kind.
»Mach dir keine Sorgen, Lila, du wirst toll aussehen morgen«, sagte sie, nicht ohne hinzuzufügen: »Und du natürlich auch, Ioana.« An ihr war eine Diplomatin verloren gegangen.
KAPITEL 10
Amsterdam, Niederlande
Freitag, 14. Juni 2013, 14.04 Uhr (zur gleichen Zeit)
Solveigh Lang fühlte sich elend. Elend, weil sie das Schicksal ihrer Kollegen in die Hände der Rettungskräfte gelegt und die Flucht ergriffen hatte. Elend von dem metallischen Geruch von Blut und dem Tod so vieler Menschen, die sie gekannt hatte. Und noch mehr, die sie besser hätte kennen sollen. Ihre Hände zitterten leicht von dem Schlafmangel einer durchwachten Nacht in einer billigen Pension und von den Gesprächen mit Eddy über das, was passiert war. Und das, was sie nicht fassen konnten: dass jemand versuchte, sie alle umzubringen. Das Ziel der Anschläge war es nicht, die ECSB aufzuhalten. Spätestens seit dem Attentat auf den Evakuierungspunkt war klar, dass es ihrem Gegner darum ging, sie vollständig zu vernichten.
In dem Elektronikmarkt schob Eddy seinen Rollstuhl vor das Regal mit den Prepaidhandys und zog ein Paket nach dem anderen von den Metallhaken. Er reichte sie Solveigh über seine Schulter, und sie packte die Geräte in den Einkaufswagen, den sie vor sich herschob. In der Computerabteilung besorgte Eddy Ersatz für ihre Laptops, die bei dem Feuer zerstört worden waren und die sie aus Sicherheitsgründen wohl ohnehin verschrottet hätten. Solveigh hatte für diesen Einkauf ihre sämtlichen Ersparnisse geplündert, auf ihrem Konto herrschte jetzt gähnende Leere. Aber nach dem Angriff auf die ECSB hatte sie es nicht riskieren wollen, ihre Kreditkarte zu verwenden. Bargeldloses Bezahlen war in etwa so riskant wie Telefonieren, wenn man von der Bildfläche verschwinden wollte. Noch immer trug sie den ELMSFEUER-Umschlag in ihrer Handtasche bei sich. Sobald sie sich mit neuen Handys versorgt hatten, konnte sie es riskieren, Kontakt zu Will Thater aufzunehmen.
Eine Dreiviertelstunde später saßen Solveigh und Eddy in der hintersten Ecke eines Cafés am Nieuwmarkt und schoben eine SIM-Karte nach der anderen in die Telefone. Als Solveigh das erste aktiviert hatte, wählte sie die Nummer der ECSB-Zentrale.
»Herzlich willkommen bei Loude IT-Services, wie kann ich Ihnen helfen?« Die falsche Empfangssekretärin würde sie nicht verbinden, sie wusste nicht einmal, dass sie nicht für Loude IT-Services arbeitete. Erstaunlich, dass zumindest die Telefonleitung schon wieder funktioniert, dachte Solveigh. Wenn man bedenkt, was sonst alles schiefgelaufen ist.
Solveigh drückte eine Nummernfolge, gefolgt von der Rautetaste, um schließlich ihre PIN einzugeben.
»Willkommen, Agent Lang«, sagte eine Computerstimme.
»Notfalllokalisation Thater, William«, sagte Solveigh.
»Bitte warten Sie«, sagte der Computer.
»Der Aufenthaltsort kann nicht ermittelt werden«, lautete das
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