Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
blonden weißen Mann gehört hatte, der etwa 1 Meter 95 groß gewesen sein dürfte. Zum Zeitpunkt seines Todes dürfte der Mann – geschätzt – zwischen 35 und 45 Jahre alt gewesen sein. Und der Todeszeitpunkt lag vor etwa zehn Jahren. Die Konservierungsmethode machte eine genauere Bestimmung unmöglich, ebenso wie die Beantwortung der Frage, ob der Arm bei lebendigem Leib vom Körper abgetrennt wurde. Ausnahmsweise hatte sich die Gerichtsmedizin ins Zeug gelegt. Paul Regen hatte nicht erwartet, so schnell etwas über den Todeszeitpunkt zu erfahren. Er steckte das Brötchen in den Mund und blätterte zur letzten Seite des Berichts, wobei seine fettigen Finger dunkle Flecken an den Seitenrändern hinterließen. Als er bei der Unterschrift angekommen war, tropfte Meerrettichsauce auf den Namen von Dr. P. Breitling.
»Aha«, sagte Paul zu sich selbst. »Hab ich es doch gewusst.«
Der Workaholic unter den Gerichtsmedizinern, dessen Augenringe noch ausgeprägter waren als die der Untoten aus dem Sunshine Pub. Paul Regen blätterte zurück.
Der Arm war mit einer chirurgischen – oder einer anderen sehr scharfen – Säge abgetrennt worden. Dr. Breitling musste das schreiben aus Gründen der Absicherung gegenüber seinem Vorgesetzten, was Paul ihm keineswegs übelnahm. Trotzdem war klar, dass er von der chirurgischen Säge überzeugt war. Erst danach war er konserviert worden, und zwar mit einer ganz ähnlichen Methode, mit der auch die Pathologie ihre Präparate vor dem unweigerlichen Verfall schützte. Danach war das Exponat in einen handelsüblichen Müllbeutel eingewickelt worden, der von Tausenden Supermärkten und beinah ebenso vielen Drogerien in ganz Deutschland verkauft wurde. Dr. Breitling forderte die Kriminaltechnik auf, die weitergehende Analyse vorzunehmen, etwa um eine Chargennummer herauszubekommen, was Paul Regen den Kollegen morgen ersparen würde, denn es würde ganz sicher zu nichts führen. Hätte man das schon einmal gehört? Dass man eine Plastiktüte zurückverfolgen kann? Wenn sie keine Fingerabdrücke oder fremde DNA-Spuren fanden, konnten sie die Tüte ebenso gut verbrennen, was natürlich gegen die Vorschriften wäre. Schlussendlich, so der Bericht von Dr. Breitling, habe die Tüte wohl luftdicht abgeschlossen, denn das verbleibende Formalin habe nahezu komplett konservierend gewirkt. Was kein Wunder war, schließlich war die Tüte vergraben worden. Paul Regen leckte seine Finger ab und roch daran. Dann rollte er die Aprikosen auf die Ausdrucke und wusch neben seinen Fingern auch noch die 2,50 Euro Wechselgeld an einem der Marktbrunnen. Paul Regen hatte das Gefühl, dass sich Fischgeruch überall festklammerte wie ein schwer zu lösender Schleim. Natürlich war das unsinnig, aber seine Phobien wurde man nun einmal schwerer los als seine guten Angewohnheiten. Mit einer der Aprikosen im Mund blätterte er zu dem, was Dr. Breitling unter »Sonstiges« vermerkt hatte. Paul Regen wusste, dass sich dort meist die echten Schätze einer rechtsmedizinischen Untersuchung versteckten. Es sei denn, ein Mann hatte seine Frau erschlagen oder ein Bruder seinen Bruder oder der Opa den Sohn. Das waren die Fälle für die Fakten auf den ersten beiden Seiten, die DNA, die absoluten Beweise. Wie Klaus Wochinger ahnte auch Paul Regen, dass dieser Arm nicht zu den Fällen gehörte, die schnell und idiotensicher aufgeklärt werden würden. Niemand hatte behauptet, dass der Kriminaldirektor nicht ein schlauer Bursche wäre, auch wenn seine steile Karriere auf einem Missverständnis beruhte, das Paul Regen als sein damaliger Partner versäumt hatte aufzuklären. Unter »Sonstiges« hatte Dr. Breitling notiert, dass der Arm wohl einem schwer arbeitenden Menschen gehört haben muss. Er hatte Erde unter seinen Fingern gefunden, Schwielen an den meisten Fingern und über den Mittelhandknochen. Dr. Breitling schloss daraus, dass der Mann regelmäßig, vermutlich berufsbedingt, mit schweren Werkzeugen hantiert haben musste. Die große Frage war, wie es Paul Regen gelingen konnte, weiter an dem Fall zu arbeiten. Am Montag würde er die Daten in ihr neues System eingepflegt haben und vermutlich keine Treffer landen. Und dann?
Nach dem letzten Absatz und der letzten Aprikose kaufte Paul auf dem Markt eine große Portion Schafskäse, eingelegtes Gemüse, Brot und Knoblauch. Die schweren Tüten schnitten in seine rechte Hand, und der Bericht geisterte durch seinen Kopf, als er den Rückzug antrat. Er machte einen
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