Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
»Machen sie dir Angst?«
Sie schlug die Augen nieder.
»Das müssen sie nicht«, sagte der Mann und hob vorsichtig eine der Figuren heraus. »Schau, das hier ist Siegfried«, sagte er. »Siegfried ist ein Drachentöter. Er ist kein böser Mann, dieser Siegfried, denn er tötet den Drachen nur, weil der eine schöne Prinzessin verschleppt hat.«
Das Mädchen betrachtete die Figur in seiner Hand. Er stellte sie auf den Boden. Sie bestand aus verrostetem Metall. Ein Rechteck als Körper und eine Lanze unter seinem Arm.
»Willst du, dass die Prinzessin gerettet wird?«
Das Mädchen nickte.
»Siehst du, das kann nur Siegfried«, sagte er. »Und deshalb musst du vor Siegfried keine Angst haben.«
»Okay«, sagte sie und lief auf dem Ärmel kauend zu ihrer Mutter, die ein Stückchen die Straße hinunter bei einem Stand mit Häkeldecken auf sie wartete. Es war immer die gleiche Geschichte, die er über Siegfried erzählte. Manchmal kamen die Mütter am nächsten Tag zurück und kauften etwas bei ihm. Die Mutter des kleinen Mädchens hatte allerdings kein Glück, denn heute war der letzte Tag des Markts. Wer vierzig Jahre in diesem Geschäft tätig war, wusste, wann sie kauften und welche Geschichten er zu erzählen hatte. In Deutschland, dem Ursprungsland der Siegfried-Sage, kam sie nicht besonders gut an, in Italien dafür umso besser. Bei Kindern zog sie eigentlich überall. Der Mann packte Siegfried zurück zu den anderen Figuren und bedeckte sie mit einer großen Plane aus Wolle, damit sie beim Fahren weniger gegeneinanderschlugen. Dann setzte er sich hinters Steuer und verließ den Ort auf der Landstraße Richtung Osten. Er hatte nicht mehr viel Zeit, bis die Pflegerin in ihren weißen Renault Clio steigen würde, um nach Hause zu fahren. Er hatte sie beobachtet. Jeden Abend in der letzten Woche. Sie war perfekt. Kräftig und ein Gesicht wie Jeanne d’Arc. Und sie fuhr alleine.
Er lenkte den VW-Bus auf halber Strecke zwischen der Landstraße und dem Gestüt in eine Grasnarbe und stellte den Warnblinker an. Durch die dichten Bäume war sein Wagen von den Stallungen aus nicht zu sehen, und dennoch räumte die lang geschwungene Zufahrt der Pflegerin genug Chancen ein, seine Hilflosigkeit wahrzunehmen und ihre Hilfsbereitschaft zu überdenken. Helfen, das wusste er, war eine bewusste Entscheidung, kein Reflex. Aus einem der Schränke holte er einen vorbereiteten Gips, schnallte ihn um sein rechtes Bein und testete die Krücken. Dann öffnete er die Heckklappe und wartete.
Als er den kleinen Motor des Clio hörte, machte er sich am Kasten des Reserverads zu schaffen. Sie bog um die Ecke, er drehte sich um und winkte. Zeigte auf sein Bein, lächelte und zuckte mit den Achseln. Der Clio fuhr vorbei. Der Mann mahnte sich zur Ruhe. Ein wahrer Künstler muss warten können, dachte er noch, als er hörte, wie dünne Reifen auf Schotter bremsten und die Pflegerin den Rückwärtsgang einlegte. Er lächelte, als sie die Tür öffnete.
»Bitte, Mademoiselle, ich bräuchte Ihre Hilfe«, rief er. »Danke, dass Sie anhalten!«
KAPITEL 27
Amsterdam, Niederlande
Montag, 1. Juli 2013, 22.12 Uhr (zur gleichen Zeit)
Der schwere Wagen krachte mit beinah siebzig Stundenkilometern gegen den Betonpfeiler in der Tiefgarage. Nach wenigen Millisekunden explodierten die Treibladungen in den Airbags und füllten die Säcke mit heißem Gas. Solveighs Oberkörper schnellte nach vorne, der Gurt hielt ihn zurück. Sie griff nach ihrer Pistole, noch während das Gas durch den Druck ihres Kopfes entwich, und drehte sich nach hinten. Michele Vizzone war schneller. Er hielt die Waffe im Anschlag und grinste. Solveigh griff nach dem Schalthebel, duckte sich und legte den Rückwärtsgang ein. Ein Schuss krachte. Dann gab sie erneut Gas. Die Mündung von Micheles Waffe tanzte unkontrolliert zum Wagenhimmel. Solveigh drehte das Steuer bis zum Anschlag nach links, und der Wagen raste rückwärts in eine freie Parklücke gegenüber. Blech und Kunststoff krachten gegen die Wand. Diesmal musste es klappen. Solveigh riss ihre Jericho herum und zielte genau zwischen seine Augen. Sie starrte in die Mündung seiner Waffe.
»Sind Sie bereit zu sterben, Frau ›de Vries‹?«, fragte Michele Vizzone und lächelte.
»Wenn Sie es sind«, zischte Solveigh.
Für einige Sekunden starrte sie ihm in die Augen und versuchte zu ahnen, wann er abdrücken würde. Wenn er starb, hatten sie nichts in der Hand. Sie brauchte ihn. Sie konnte nicht als Erste feuern. Und
Weitere Kostenlose Bücher