Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
Michele Vizzone wusste das. Seine dünnen Lippen lächelten immer noch, und auf einmal wusste Solveigh, dass er einer der Männer in dem Van gewesen war. Er wusste, dass sie zur ECSB gehörte. Solveigh biss die Zähne aufeinander und fragte sich, ob dies das Ende sei. Ob sie jetzt sterben würde im Kugelhagel der ’Ndrangheta wie all die anderen? Micheles Finger krümmten sich um den Abzug. Solveigh schloss die Augen. Dann hörte sie das leise Spucken einer schallgedämpften Maschinenpistole. Kugeln schlugen in das Aluminium der Karosserie. Nicht Michele Vizzones Pistole. Eine Uzzi. Sie kannte das Geräusch, sie hatte oft genug selbst damit trainiert. Es waren Warnschüsse. Von außerhalb des Wagens. Sie öffnete die Augen und sah einen Mann vor dem zerborstenen Fenster des Audi, der Michele in Schach hielt. Pollux. Der Kollege, den sie am Abend des Anschlags blutend vor ihrer Zentrale gesehen hatte.
»Pollux!«, rief sie.
»Hallo, Slang«, sagte er.
Vertraue niemandem, erinnerte sich Solveigh.
»So ein schöner Wagen«, sagte Pollux, als er Michele Vizzone die Waffe abnahm.
»Hilf mir mal mit dem Schrankkoffer«, bat Solveigh.
Pollux fixierte Micheles Hände mit Kabelbindern und wuchtete das Monstrum, das beinah so groß war wie ein Kleiderschrank, aus dem Audi.
»Sollen wir mit einem schreienden Italiener durch die Lobby?«, fragte Solveigh, als sie seinen amüsierten Blick bemerkte.
»Im Leben krieche ich da nicht rein!«, rief Michele Vizzone, der offenbar übersah, dass er bereits verloren hatte.
»Wirklich nicht? Wäre es Ihnen lieber gewesen, wir hätten das Scala einfach in die Luft gejagt?«, fragte Solveigh. »Das wäre auch mein Plan gewesen, aber mein Kollege wollte erst mal höflich nachfragen.«
Mit der kalten Mündung der Jericho im Nacken gab Michele Vizzone nach. Im Schrankkoffer klebte ihm Solveigh einen breiten Streifen Gaffa-Tape über den Mund. Als sie den Schrankkoffer Richtung Fahrstuhl schoben, beugte sich der fast zwei Meter große Pollux zu ihr herunter.
»ELMSFEUER«, flüsterte er.
Solveigh nickte ihm zu. Sie hätte sich denken können, dass Pollux zu einem der anderen Teams gehörte. Er war einer der dienstältesten Agents der ECSB. Und offenbar hatten er und sein Partner die gleichen Schlüsse gezogen wie Eddy und Solveigh.
»Bis bald«, flüsterte er, als der Fahrstuhl in der Lobby hielt. Er hatte recht. ELMSFEUER sah nicht vor, dass die Teams miteinander kooperierten. Solveigh war Pollux dankbar, dass er genau im richtigen Moment aufgetaucht war und die Regel ignoriert hatte.
Als Solveigh Michele Vizzone in Zimmer 408 das Klebeband von den Lippen riss, spuckte er ihr ins Gesicht. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Wange und drückte ihn auf den Stuhl.
»Signore Vizzoni«, sagte sie. »Wie schön, dass Sie Zeit für uns finden.«
»Polizei«, sagte Michele Vizzone und spuckte erneut auf den Boden.
»Ich kenne eure Regeln über den Umgang mit der Polizei, Michele. Und sie interessieren mich nicht. Wir sind nicht exakt das, was Sie sich unter der Polizei vorstellen, aber ich denke, Sie ahnen bereits, für welche Organisation ich arbeite, oder nicht?«
»Zumindest sind Sie nicht meine Anwältin«, sagte Michele Vizzone mit Verachtung in der Stimme.
Solveigh lächelte: »Mein Name ist Solveigh Lang, Signore Vizzone.«
»Wir schlitzen Ihnen die Kehle auf, sobald Sie sich umdrehen. Sie werden niemals mehr wissen, ob einer von uns hinter Ihnen steht.«
Eine derartige Drohung in einer aussichtslosen Situation ließ zumindest auf einen gewissen Kampfgeist schließen, fand Solveigh.
»Glauben Sie mir, Michele«, sagte Solveigh, »ich schlafe ruhig.«
Eddy, der am Schreibtisch der Suite auf seinen Einsatz wartete, grinste.
»Ich habe nur eine Frage an Sie, Michele. Und ich stelle sie nur einmal, da ich vermute, dass ich Ihre Antwort kenne: Wer steckt hinter dem Anschlag auf das Bürogebäude im Amstel Business Park?«
Michele Vizzone lachte.
»Das dachte ich mir«, sagte Solveigh und gab Eddy das verabredete Zeichen.
Er schob den Rollstuhl an dem Italiener vorbei zu einem Computer. Dabei sprach er leise und melodisch, fast wie zu einem Kind: »Wissen Sie, Signore Vizzone. Ihr Problem ist, dass wir Sie gar nicht brauchen, um herauszufinden, für welche der Familien Sie arbeiten.«
Michele Vizzone lachte erneut.
»Abgesehen davon, dass wir Sie nur länger hätten beschatten müssen, um das gleiche Ergebnis zu erzielen …«, setzte Solveigh an, und Eddy
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