Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
Die Aufklärungsrate war relativ schlecht, da die Täter in aller Regel keine enge Beziehung zu ihren Opfern hatten, sie meist nicht einmal kannten. Die Polizei durfte sich nicht wie sonst üblich auf die Suche nach einem Motiv konzentrieren, da dieser Teil der Ermittlungen kaum Erfolg versprechend war. Und das, obwohl jeder Kriminalkommissar nichts mehr liebte als eine schlüssige Begründung. Letztlich stellte sich die Kriminalpolizei mit ihren Ermittlungsmethoden selbst ein Bein. Kein Motiv, kein Täter. Glücklicherweise war der Großteil der Serienmörder nicht eben hochbegabt, recht häufig lag ihr Intelligenzquotient sogar weit unter dem Durchschnitt. Sie mordeten, weil eine Frau, die sie im Bus trafen, einen rot gepunkteten Rock trug, aus welchem Grund auch immer sie das störte. Die Dummen wurden gewissermaßen trotzdem gefasst.
Was Paul Regen nicht wusste: Bei Weitem nicht alle Serienmörder sind weiß, männlich und sexuell motiviert. Vor allem hinsichtlich ihrer Motive scheint es keine Einschränkungen zu geben: Macht, Sex, Habgier, eine Psychose, der Drang, die Welt von Homosexuellen zu befreien – es hatte in der Geschichte anscheinend jede nur denkbare Erklärung für ihre Gräueltaten gegeben.
Als die Becher eingesammelt wurden, klappte Paul Regen die Akten zu. Zumindest fühlte er sich einigermaßen vorbereitet. Einiges, was er gelesen hatte, stützte seine Theorie: die identischen Flüssigkeiten, die sauber abgetrennten Gliedmaßen, der offensichtliche Lerneffekt des Täters von seinem Arm bis zu dem Kopf in Schweden. Allerdings gab es nach wie vor einen gewichtigen Aspekt, der gegen seine fixe Idee sprach: die Unterschiede zwischen den Opfern. Männer, Frauen, ihr unterschiedliches Alter, unterschiedliche Berufe, verschiedene Länder, es schien einfach keine Gemeinsamkeiten zu geben. Und das würde bedeuten, dass eine sexuelle Motivation beim Täter nahezu ausgeschlossen war. Serienmörder waren entgegen ihrer medialen Präsenz in skandinavischen und amerikanischen Krimis ein sehr seltenes Phänomen. Täter ohne sexuelle Motivation waren noch viel seltener. Eines jedoch ließ Paul Regen glauben, dass er die Wette mit Kriminaldirektor Wochinger doch noch gewinnen könnte: Ein Serienmörder, der systematisch über europäische Grenzen hinweg mordete, war seines Wissens nach erst einmal gefasst worden – was einem äußerst unwahrscheinlichen Zufall zu verdanken war. Das Schengener Abkommen war 1995 in Kraft getreten. Im Laufe der Jahre waren immer mehr Schlagbäume zwischen europäischen Staaten abmontiert worden. Und damit entfiel jegliche Kontrolle bei Grenzübertritten. Bei diesem langen Zeitraum und der hohen Dunkelziffer ergab sich fast schon eine statistische Wahrscheinlichkeit für Paul Regens Vermutung. Sein Bauchgefühl einmal außer Acht gelassen.
Als das Flugzeug zur Landung ansetzte, nahm die Stewardess, die ihm sein Tonic Water mit einem überaus charmanten Lächeln gereicht hatte, gegenüber seinem Sitz Platz. Er konnte kaum anders, als sie anzuschauen, und er stellte fest, dass es schon sehr lange her war, dass er diese Art von Gedanken für eine Frau gehegt hatte, die er nicht einmal kannte. War es sein erster echter Fall seit Jahren, der seinen Instinkt aus dem Sumpf an Perspektivlosigkeit gezogen hatte? Paul Regen wusste es nicht, aber er fand sie zweifellos attraktiv. Sie mochte vielleicht Ende dreißig sein, trug aber ihre Haare zu einem dicken, jugendlichen Zopf geflochten. Und sie färbte die paar grauen Strähnchen nicht, was Paul Regen ausnehmend gut gefiel. Sie steckte natürlich in dem obligatorischen Lufthansa-Kostüm, was irgendwie immer noch nach großer, weiter Welt aussah, obwohl der Glamour des Fliegens längst vergangen war und die meisten von ihnen über die Bezeichnung Saftschubse herzlich lachen würden. Diese bestimmt, vermutete Paul Regen.
»Vielen Dank für diesen überaus angenehmen Flug, Vera«, sagte Paul Regen und zwinkerte.
»Bitte, gerne«, sagte Vera Teichfischer. Namensschilder können verdammt praktisch sein, entschied Paul Regen.
Der Airbus A321 ruckelte durch die Wolkendecke über Barcelona. Paul Regen schaute über den freien Platz neben sich auf die Lichter der Stadt. Vielleicht schaute er in seine Zukunft. Er dachte an Lisa Wochinger und die Wette. Wie würde er leben, wenn er seine Pension verlor? Er würde sich nicht nach Würzburg oder Ingolstadt versetzen lassen, so viel stand fest. Lieber quittierte er den Dienst. So weit sind wir
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