Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
an den wettergegerbten Latten seines Scheunentors. Er beeilte sich, den großen Türflügel wieder hinter sich zuzuziehen und von innen zu verschließen. Der vertraute Geruch von geschnittenem Holz, Lasur und der anderen Chemikalien stieg ihm in die Nase. Die Scheune war seine Zuflucht, sein Zuhause, sein Werk. Die unzähligen Tage und Monate, die er hier verbracht hatte, summierten sich zu einem halben Leben. Und schon bald würde diese einfache Scheune ein Ort der Andacht und der Bewunderung werden. Aus aller Welt würden sie anreisen, um es zu sehen. Er griff nach einer Wasserflasche und machte sich auf den Weg in den Keller, den er selbst ausgehoben hatte. Er wuchtete die Werkbank von der Luke und stieg hinab. Hier war die Erde feucht, es roch modrig nach Würmern und Getier, obwohl er die Wände mit Holz verkleidet und den Boden mit Stroh ausgelegt hatte. Die Reiterin saß in der Ecke zusammengekauert und hielt die Decke, die er ihr gegeben hatte, wie ein Kind vor das Gesicht. Obwohl er ihr kein Chloroform mehr gab, weil er Angst hatte, dass sie sterben könnte, hatte sie ihre Stimme noch nicht wiedergefunden. Sie blieb stumm bis auf ein leises Weinen, wenn er durch den niedrigen Gang zurückkroch. Er streckte eine Hand aus, vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken. Die weißen Augäpfel starrten matt aus der Dunkelheit. Ängstlich.
»Du musst keine Angst haben«, sagte der Mann und hoffte, dass sie die Bedeutung der Worte am Klang seiner Stimme erkannte.
»Komm mit«, sagte er und griff nach ihrem Arm unter der Decke.
»Ich zeige dir, wo du stehen wirst«, sagte er und zog sie am Handgelenk. »Außerdem müssen wir noch ein paar Skizzen anfertigen. Würde es dir gefallen, wenn ich dich male?« Allen hatte es letztlich gefallen, wenn sie erst erkannt hatten, was es für sie bedeuten würde, Teil von etwas Größerem zu sein, Teil von etwas, das bleiben würde, wenn wir alle längst zu Kohlenstaub zerfallen wären.
»Komm mit«, sagte er. »Oben gibt es einen Apfel.«
KAPITEL 45
Dortmund, Deutschland
Freitag, 12. Juli 2013, 1.04 Uhr (zwei Tage später)
Lila erwachte, als Adam den Bus in einer dunklen Seitenstraße auf den Bordstein lenkte und den Motor abstellte. Sie rieb sich die Augen, ihr Rücken schmerzte, und ihr rechter Arm war eingeschlafen. Lila schüttelte ihn und weckte damit Ioana, die neben ihr lag.
»Wir sind da«, sagte Adam.
»Wo sind wir?«, fragte Lila und gähnte. Auf der zweiten Rückbank rekelte sich Mascha neben Zalina, mit denen sie sich nach wie vor prächtig verstanden. Sie hatten über zwei Tage Zeit gehabt, sich gegenseitig ihre Träume in den buntesten Farben zu schildern und sich auszumalen, welche Abenteuer wohl im Westen auf sie warteten.
»In Deutschland«, sagte Adam, auf einmal deutlich mürrischer als während ihrer Pausen auf den Parkplätzen von Rasthöfen. Adam hatte sich stets wie der perfekte Fahrer verhalten und sogar diskret Wache gestanden, wenn eine von ihnen auf eine der dunklen Rastplatztoiletten gegangen war. Er hatte sie niemals bedrängt, auch wenn Lila seine Blicke auf Ioanas Brüste nicht entgangen waren.
»Steigt aus!«, sagte Adam und schwang sich vom Sitz. Die Mädchen krochen von den Bänken und holten ihre Taschen aus dem Kofferraum. Lila betrachtete die Häuser, die so unglaublich modern und ordentlich aussahen im elektrischen Licht der Straßenlaternen. Hinter den meisten Fenstern hingen Vorhänge, und selbst die Keller hatten kleine Fenster am Sockel der Häuser. Neben der sauber asphaltierten Straße war sogar ein Gehsteig gepflastert. Die anderen Mädchen reckten ebenso die Köpfe nach oben, als Adam sie die Straße hinunter zu einem dunkelgrauen Haus geleitete. Er drückte einen von vielleicht zehn oder zwölf Knöpfen am Eingang, aber Lila hatte nicht erkennen können, welcher Name auf dem Schild stand. Die Klingelkästen waren hier aus schönem weißen Plastik und die Haustür aus kunstvoll geschliffenem Glas angefertigt. Ein Summen ertönte, und Adam drückte die Tür nach innen.
An der Wohnungstür im zweiten Stock wartete eine ältere Frau auf sie. Ihre Haare waren nicht besonders gepflegt, und Lila vermutete, dass sie getrunken hatte, denn sie stützte sich im Türrahmen ab, als sie die vier Mädchen eintreten ließ. Adam blieb draußen. Er flüsterte auf Rumänisch mit der Frau, die er Valentina nannte. Vermutlich eine Art Bericht, wie sie sich benommen hatten. Lila wüsste nicht, was er bei ihnen hätte monieren können. Nach fünf
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