Aristoteles: Grundwissen Philosophie
Erklärungsmöglichkeiten. Denn die Wurfbewegung ist nicht natürlich, kann also nicht auf Selbstbewegung zurückgehen; zugleich ist aber die externe Kraftquelle nicht mehr wirksam. Der Lösungsvorschlag lautet: Der Bewegungsursprung des [43] Wurfes verleiht dem Medium des geworfenen Dinges die (abnehmende) Fähigkeit, die Bewegungskraft weiter zu vermitteln (Phys. VIII 10, 266b ff.).
Außerdem scheint die Beschleunigung im freien Fall unerklärlich zu sein, da es sich um eine natürliche Bewegung handelt, die die Geschwindigkeit erhalten und nicht steigern sollte. Lösungsvorschlag: Die Bewegungskraft steigert sich mit zunehmender Annäherung an den natürlichen Ort (Cael. I 8). Und schließlich folgt aus der Bewegungstheorie, dass wenn eine Kraft einen Gegenstand mit Geschwindigkeit v bewegt, die n-fache Kraft den Gegenstand mit n-facher Geschwindigkeit bewegen sollte (Phys. VII 4–5, 249b ff.). Diese Folgerung wäre empirisch leicht falsifizierbar gewesen, aber Aristoteles hielt sie offenbar für evident.
Diese Probleme wurden nach Aristoteles mehr als tausend Jahre lang diskutiert. Immer neue Lösungsvorschläge wurden unterbreitet und dann wieder kritisiert. Aber niemand sah darin einen Anlass, die aristotelische Physik im Ganzen abzulehnen, denn diese Physik schien in vielen anderen Bereichen empirisch hervorragend bewährt und begrifflich kohärent zu sein. Man hatte stets die Hoffnung, die Probleme lösen zu können – bis sie plötzlich zu Beginn der Frühen Neuzeit, um 1630 eine ungeahnte Sprengkraft erhielten und die aristotelische Physik innerhalb weniger Jahrzehnte zum Einsturz brachten. Es ist nach wie vor eine der spannendsten Fragen der Wissenschaftsgeschichte, wie diese Entwicklung zustande kommen und zur Geburt der modernen Physik führen konnte.
Die aristotelische Kosmologie beschäftigt sich mit der Sphäre der Fixsterne und Planeten sowie mit dem letzten Ursprung aller Bewegung. Die supralunare Sphäre ist aus konzentrischen Kugeln aufgebaut, die aus dem Äther-Stoff (dem »fünften« Element) bestehen und an denen die Fixsterne und Planeten befestigt sind. Wie bereits angedeutet, bewegen sie sich auf mathematisch exakten und unveränderlichen Bahnen – für Aristoteles ein Indiz für ihre Göttlichkeit. Die [44] mathematische Astronomie hat die Aufgabe zu zeigen, dass die beobachtbaren Bahnen der Fixsterne wie der Planeten kreisförmig oder aus kreisförmigen Bahnen zusammengesetzt sind – also den einfachsten und vollkommensten geometrischen Figuren entsprechen. Die Lösung dieser Aufgabe war vor allem im Falle der Planetenbahnen ein hartes Stück Arbeit und resultierte schließlich in der ptolemäischen Astronomie (Phys. VIII 8–10; Cael. II 3; Metaph. XII 8, 1073b).
Aber was ist der letzte Bewegungsursprung der Sterne? Die Antwort auf diese Frage lässt sich nach Aristoteles im Rahmen der Physik finden, führt jedoch zugleich zur Annahme eines Gottes – des »unbewegten Bewegers«. Damit ist das Programm einer rationalen Theologie entworfen, das die Vorstellung von Gott naturalisiert und zugleich das Phänomen der Religiosität ernst nimmt. Es lohnt sich daher, die aristotelische Ableitung der Existenz des göttlichen unbewegten Bewegers und seiner Eigenschaften aus physikalischen Prämissen nachzuzeichnen (Metaph. XII 6–9; Phys. VIII 10). 10
Aus der Physik wissen wir, dass es zu jeder Bewegung ein internes oder externes Bewegendes gibt, das ihr Ursprung ist. Die kosmischen Bewegungen im Ganzen sind kontinuierlich und ewig, d. h., sie haben keinen Anfang, und sie haben die Form einer zyklischen Ortsbewegung. Bewegung ist, wie wir uns erinnern, grundsätzlich ein Übergang von der Potenzialität zur Aktualität. Die ewige kontinuierliche Bewegung der Sterne – so eine weitere Prämisse – ist letztlich die aktuelle Bewegung einer einheitlichen Bewegungsgröße, nämlich des Kosmos, und ist daher auch Werk eines einzigen Bewegenden. Dabei muss es einen ersten Himmel geben, eine äußerste Sternensphäre, denn der Kosmos ist räumlich endlich.
Zwei weitere allgemeinere physikalische Grundsätze können in der rationalen Theologie herangezogen werden: Das Wirken körperlicher Größen verbraucht Kraft, mithin kann keine endliche körperliche Größe unendlich wirken; und keine endliche körperliche Größe bleibt bei ihrem Wirken unveränderlich. Und schließlich erweisen sich einige [45] metaphysische Annahmen als hilfreich: Stoff und Körper enthalten stets u. a. Potenzialität,
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