Aristoteles: Grundwissen Philosophie
Unrechttuns, die Vorzüge und Nachteile der verschiedenen Arten von Freundschaft, die Theorie der Gefühle oder die Bestimmungen des Lustvollen und Gerechten (zu diesem Wissen Rhet. I, zur »Theorie« der Gefühle Rhet. II 1–19).
Wer glücklich werden will, muss über dieses Wissen verfügen: Das Wissen um das Glück hat »für das Leben ein großes Gewicht«, denn dieses Wissen lässt uns das Lebensziel, das wir alle auf die eine oder andere Weise vor Augen haben, »wie Bogenschützen besser treffen« (NE I 1, 1094a 22–25). Die Ethik präsentiert ein Wissen, das integraler Bestandteil eines glücklichen Lebens ist. Die aristotelische Ethik ist als Wissenschaft vom Handeln jedoch mehr als nur eine Präsentation des Wissens, über das wir für die Realisierung unseres Glücks verfügen sollten. Die Ethik will und soll auch empfehlen, wie wir handeln sollten, um glücklich zu werden (NE I 1, 1095a; I 10, 1099b; II 2, 1103b; X 10, 1179a–b). Wesentlich für das ethische Handeln sind eine angemessene Erziehung und eine ethische [85] Selbstarbeit, mit der wir unseren Charakter ausbilden und uns zu einer reifen und komplexen Persönlichkeit emporarbeiten können. Das ethische Handeln ist keineswegs nur Mittel zum Zweck der Realisierung eines glücklichen Lebens, es ist in seiner ausgereiften Form integraler Bestandteil des glücklichen Lebens. Nach Aristoteles können wir nur glücklich sein, wenn wir einen guten Charakter haben; aber einen guten Charakter zu haben, bedeutet vor allem, tugendhaft zu handeln. Wir sind tapfer oder gerecht, indem wir tapfer und gerecht handeln. Und insofern die Ethik als Wissenschaft vom Handeln ein integraler Bestandteil des ethischen Handelns sein soll, ist Ethik im aristotelischen Sinne zugleich Erkenntnis und Erwerb der Sittlichkeit, Wissenschaft vom Handeln und handelnde Wissenschaft. Allerdings betont Aristoteles auch die wichtigsten Voraussetzungen für die Umsetzung der Ethik: Wer sich zu seinem Glück im wohlverstandenen Eigeninteresse emporarbeiten will, muss bereits über ein gewisses Maß an Lebenserfahrung, Reflexionsbereitschaft und guter Erziehung verfügen; das Streben nach dem wahrhaft besten Leben muss im Ansatz bereits vorhanden sein (NE I 2, 1095b). 27
Die reifste ethische Schrift, die Aristoteles verfasst hat, die
Nikomachische Ethik
28 , stellt ohne Zweifel die ausgefeilteste Umsetzung des Programms der klassischen griechischen Moralisten dar. Sie beginnt mit einer umrisshaften Bestimmung des Glücks (griech. e
udaimonia
) – mit einer Sammlung von allgemeinen Ideen vom Glück, die wir nach Aristoteles’ Überzeugung alle im Kopf haben: Alle Menschen streben nach Glück; allein das Glück wird um seiner selbst willen erstrebt und kann durch nichts Wichtiges mehr verbessert werden. Wenn jemand sagt, das Glück könne durch X verbessert werden, dann ist das nur eine unbeholfene Formulierung für die Behauptung, X sei konstitutiver Bestandteil von Glück (NE I 1). Das Glück ist nicht ein momentanes, berauschendes Gefühl, sondern wird nur in einem guten, erfüllten Leben in seiner Gesamtheit erreicht. Und das gute Leben ist nicht ein [86] moralisch gutes, sondern ein wünschenswertes Leben – ein Leben, für das man nicht gelobt, sondern beglückwünscht, nicht ermuntert, sondern beneidet wird, kurz ein Leben, das man sich auch für seine Kinder wünscht. Was das Glück jedoch genauer ist, darüber bestehen, wie Aristoteles betont, viele Meinungsverschiedenheiten.
Der erste Schritt in der dialektischen Analyse des besten Lebens und damit des Glücks, den Aristoteles präsentiert, ist ein Kriterienkatalog für das beste Leben. Was immer das beste Leben sein mag, es muss jedenfalls dem Menschen spezifisch sein und soll so weit wie möglich autonom und beständig sein. Es muss außerdem vornehmlich in aktiver Tätigkeit bestehen und darf natürlich nicht mit erheblichem materiellem und persönlichem Missgeschick verbunden sein (NE I 3). Wenn man wie Aristoteles bereit ist, Platons Unterscheidung der drei wichtigsten Lebensformen zu akzeptieren – also das auf Genuss, Ehre oder Wissen orientierte Leben – sowie zusätzlich das auf Gelderwerb orientierte Leben einbezieht, so lässt sich feststellen: Das auf Gelderwerb orientierte ökonomische Leben erstrebt ein Ziel, das kein Endziel ist, denn Geld sollten wir erwerben, um andere Ziele zu realisieren; das genussorientierte Lotterleben teilen wir mit vielen Tieren, ist also nicht dem Menschen spezifisch; und das auf
Weitere Kostenlose Bücher