Aristoteles: Grundwissen Philosophie
Ehre orientierte politische Leben ist nicht autonom, sondern auf Lob und Ehrung seitens anderer Menschen angewiesen. Diese drei Lebensformen verletzen also mindestens eines der Kriterien für das beste Leben. Daraus folgt, dass das auf theoretisches Wissen orientierte Leben als das beste Leben anzusehen ist (NE I 5; I 10). Zuweilen ist diese Forderung so ausgelegt worden, dass allein das theoretische Wissen hinreichend für das Glück ist und einen ethischen Intellektualismus repräsentiert. Diese Lesart der aristotelischen Ethik wird gewöhnlich als exklusive Interpretation bezeichnet.
Allerdings macht Aristoteles klar, dass weder Lust noch Ehre noch theoretische Vernunft für sich allein das Glück ausmachen (NE X 6–9). Tatsächlich sind dem Kriterienkatalog [87] zufolge auch ethisches Wissen und ein gewisses Maß an Autonomie und materiellem Wohlstand für das Glück notwendig; und in späteren Büchern der
Nikomachischen Ethik
betont Aristoteles, dass außerdem gute Freundschaften zum Glück gehören (Rhet. I 5, 1360b; NE X 9, 1178b). Damit redet Aristoteles aber nicht einem additiven Verständnis von Glück das Wort; vielmehr scheint er die Bestandteile des Glücks nicht als Teile oder Mittel, sondern als konstitutive Elemente des Glücks aufzufassen, ähnlich wie z. B. die Tanzschritte nicht Teile oder Mittel für das Tanzen sind, sondern das Tanzen als seine Bestandteile konstituieren. Dies sind die Grundzüge der antiintellektualistischen Lesart der aristotelischen Ethik und der inklusiven Auffassung vom Glück: Das Glück ist autark, insofern es alle wertvollen Lebensaspekte als Konstituentien enthält; glücklich ist demnach das
blühende
Leben, d. h. das möglichst komplexe, reiche und aktive Leben. Und das bedeutet auch, dass wir uns, um glücklich zu werden, zu einer allseits gebildeten, komplexen, interessanten und reifen Persönlichkeit emporarbeiten müssen. 29
Nach diesen Vorbereitungen geht Aristoteles zur genaueren Begründung und Bestimmung seines Begriffs vom höchsten Glück des Menschen über (NE I 6). Er versucht diese Bestimmung – auf »naturalistische Weise«, wie man sagt – aus einer Beschreibung der spezifischen Leistung des Menschen zu gewinnen. Zu diesem Zweck werden einige Definitionen eingeführt:
(1) Ist X ein Organismus, so ist F eine funktionale Eigenschaft von X, falls gilt: F ist für das spezifische Ziel (
telos
, Erhaltungszustand) von X notwendig; F kommt X zu, solange X existiert; und F ist erklärungskräftig für andere Merkmale von X.
(2) Die spezifische Leistung eines Organismus X ist die Fähigkeit von X, seine funktionalen Eigenschaften zu realisieren; diese Fähigkeit ist die spezifische Vortrefflichkeit oder Tugend von X; und die Struktur, die sich im Rahmen der spezifischen Leistung eines Organismus X zeigt, ist die Seele von X.
(3) Die spezifische Leistung des Menschen besteht im Umriss [88] darin, Wachstum und Wahrnehmung zur Betätigung der Vernunft einzusetzen, durch Betätigung von Vernunft Wachstum und Wahrnehmung zu lenken und nach Möglichkeit gelegentlich auch die Vernunft unabhängig von Wachstum und Wahrnehmung zu betätigen (wobei all dies optimal und möglichst konstant geschieht).
Die in (3) angesprochene Vernunft zielt auf ein sehr spezifisches Vermögen: auf die abwägende (»deliberative«), nicht auf die forschende Vernunft, und auf die praktische, nicht auf die herstellende Vernunft, kurz auf die handelnde, ethische Vernunft, die durch eine eigentümliche Übereinstimmung von Streben und Wahrheit gekennzeichnet ist – eine Mischung von theoretischer Reflexion auf wahre Bedürfnisse und einem praktischen Willen zu voller persönlicher Selbstentfaltung.
(4) Die (handelnde) ethische Vernunft ist nicht auf das Notwendige gerichtet, wie die forschende Vernunft, sondern auf das, was auch anders sein kann; sie ist ferner nicht auf einen Zweck außerhalb des Handelns gerichtet (i. e. ist nicht ein Hervorbringen) wie das praktische Können, sondern auf ein Handeln, das Zweck in sich selbst ist. Sie hängt mit dem abwägenden Seelenteil zusammen, d. h. enthält ein Abwägen von Handlungsentscheidungen; sie ist daher eine gewisse Einheit von Streben und Denken oder Übereinstimmung von richtigem Streben und Denken, die auf ein Konzept des guten, glücklichen Lebens im Ganzen ausgerichtet ist. Sie muss deshalb (a) das wirklich gute Leben erkennen (»Wahrheit«) und (b) zugleich ernsthaft anstreben (»richtiges Streben«); sie muss einzelne
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