Arkadien 01 - Arkadien erwacht
Rom. Cesare hat insgeheim Gelder abgezweigt, um für den Machtwechsel gerüstet zu sein, und mein Vater war blind genug, nichts davon zu bemerken. Vielleicht wollte er auch nur die Wahrheit nicht sehen.«
»Und deine Mutter war anders?«
»Sie und Cesare haben sich von Anfang an verabscheut, schon bevor sie und mein Vater geheiratet haben. Später hat sie bemerkt, was Cesare im Schilde führte. Sie muss versucht haben, meinen Vater zu warnen, aber als er ihr nicht zugehört hat, hat sie sich mehr und mehr zurückgezogen und die meiste Zeit hier draußen auf der Insel verbracht.«
Rosa betrachtete die verzerrten Gesichter. »Gutgetan hat ihr das Alleinsein nicht.«
»Cesare hat sich damit nicht zufriedengegeben. Er konnte nicht zulassen, dass sie die Wahrheit kannte.«
»Und da hat er sie töten lassen?«
Alessandros Augen wurden schmal und kalt und Furcht einflößend. »Ich denke, er hat es mit eigenen Händen getan. Hier oder anderswo. Aber er hat sie umgebracht.« Er hielt inne, wanderte an weiteren Bildern entlang und fuhr die Konturen der Pinselstriche nach. »Mein Vater muss es gewusst haben. Zumindest geahnt. Cesare hat ihm sicher eingeredet, dass es die einzige Möglichkeit war. Dass meine Mutter den Verstand verloren hatte und vielleicht mit den falschen Leuten über die Geschäfte der Carnevares reden könnte. Und mein Vater hat einfach … nachgegeben.« Mit geballten Fäusten fuhr er herum und nun lag ein solcher Zorn in seinem Blick, dass Rosa beinahe einen Schritt zurückgetreten wäre. Aber sie blieb stehen und wunderte sich vielmehr, dass da noch etwas war. Mit seinen Augen. Als vergrößerten sich schlagartig seine Pupillen. Und einen kurzen, irritierenden Moment lang glaubte sie, sein Haar hätte sich verändert. Wäre dunkler. Pechschwarz. Vielleicht lag das an der seltsamen Beleuchtung hier oben.
»Mein Vater hat Cesare verziehen«, knurrte Alessandro. »Hat ihm den Mord an seiner eigenen Frau verziehen!«
»Aber das vermutest du nur, oder?«
»Sie hat Dinge niedergeschrieben. Und gesammelt. Das hat sie immer getan.«
»Du meinst, einen Brief? An dich?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie hat Briefen nicht getraut.«
Rosa hob eine Braue.
»Ich weiß, dass sie nicht ganz klar im Kopf war!«, fuhr er sie an. »Ich weiß das, Rosa! Aber sie war nicht völlig verrückt, nur etwas … durcheinander. Es muss Aufzeichnungen geben, Tagebücher, irgendwas in der Art. Ich bin ganz sicher. Und wenn es die gibt –«
»– dann sind sie hier«, sagte sie.
»Ja.« Er trat vor ein farbbespritztes Zeichenpult, auf dem große Papierbogen mit Skizzen lagen, so als hätte die Künstlerin erst vor wenigen Minuten das Atelier verlassen. Er öffnete die einzige Schublade, scharrte darin herum und zog schließlich etwas hervor.
Ein blitzendes Skalpell.
Er drehte sich um.
Sie dachte an den Papierschneider, den sie am Morgen eingesteckt hatte. Und der jetzt in ihrer Umhängetasche unten am Strand lag.
Alessandros Haar erschien ihr wieder nussbraun, aber seine Pupillen füllten noch immer die gesamten Augen aus. Er tratvor eines der Bilder und schlitzte es der Länge nach auf. Mit einem reißenden Laut klaffte das Gemälde auf. Eine blutleere Wunde spaltete das verzerrte Gesicht.
Dann ein zweites.
Ein drittes.
Rosa sah reglos zu, wie er ein Bild nach dem anderen verwüstete, jedes mit einem raschen, diagonal geführten Schnitt, und sie dachte unwillkürlich, dass früher, zur Zeit der großen Mafiakriege, diese Gesichter echte Menschen gewesen waren, mit denen die capi und ihre soldati genauso verfahren wären. Etwas davon steckte auch in Alessandro Carnevare. Ein Erbe jener Zeiten, jener Männer.
Dasselbe Vermächtnis trug auch sie selbst in sich. Wie ein Gen, das fest in ihr verankert war. Sie konnte spüren, wie sich etwas regte. Wie sich etwas in ihr verwandeln, aus ihr hervorbrechen wollte. Zu der Spannung, die sie vorhin empfunden hatte, auch zu der Wut, die noch immer in ihr kochte, gesellte sich eine unheimliche Faszination.
Alessandro hielt inne, deutete auf die offene Schublade. »Da sind noch mehr.«
Sie trat vor, warf einen Blick hinein, sah ein Durcheinander aus Pinseln, Spachteln, Stiften – und Klingen. Zögernd streckte sie die Hand danach aus. Nahm eine heraus. Wog das kühle Metall in den Fingern.
Ein Skalpell, genau wie seines. Gaia Carnevare hatte damit vermutlich Farbe von Leinwänden gekratzt. Rote Farbe, wie es aussah.
»Nur ein einzelner Schnitt«, sagte Alessandro.
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