Arkadien 01 - Arkadien erwacht
»Das müsste reichen, um zu sehen, ob etwas darunter ist.«
Sie trat vor eines der Bilder, setzte die Klinge an. Schlitzte das schreiende Gesicht auf. Nur ein Bild. Nur Farben. Sie bekam eine Gänsehaut und musste dennoch lächeln. Ein Kribbeln lief durch ihre Knie, ihre Schenkel, ihren Unterleib. Erreichte ihren Brustkorb, züngelte wie eine Flamme herauf in ihren Schädel.
Das nächste Bild. Und noch eines.
Einmal meinte sie eine Art Klingeln zu hören, wie von vielen winzigen Glöckchen. Nicht in ihrem Kopf. Irgendwo im Haus. Aber sie war jetzt wie im Wahn und Alessandro erging es offenbar genauso. Sie verwüsteten die Bilder seiner Mutter auf der Suche nach dem, was darin oder darunter oder dahinter verborgen sein mochte. Wangen, Augen, Münder klafften auf. Dort, wo Leinwände gestapelt waren, wurden weitere Fratzen sichtbar, noch mehr Angstgesichter, grellbunte Blicke in die Abgründe von Gaia Carnevares Seele.
»Hier ist es«, sagte Alessandro.
Und im gleichen Moment schrammte auch Rosas Messer über eine Oberfläche, härter als Leinwand und Farbe, aber nicht dahinter, sondern darin .
Alessandros Mutter hatte Mappen aus hartem Plastik oder hauchdünnem Metall auf die Leinwände geklebt und sie fingerdick mit Ölfarben überpinselt, hatte sie eingesponnen in ihre Visionen und Albträume.
Sie fanden zehn Stück davon, verteilt auf hundert oder noch mehr Gemälde. Und in jeder Mappe steckten Dokumente: Kontoauszüge, Abrechnungen, Fotografien von Cesare Carnevare mit Männern in dunklen Anzügen. Und da waren andere Blätter, von Hand beschriftet mit winzigen Buchstaben, die nur mit einer Lupe lesbar und wohl auch unter einer geschrieben worden waren.
Außer Atem standen sie da, inmitten der Verwüstung. Alessandro hielt in einer Hand das Skalpell, in der anderen den Papierstapel. Rosas Brust hob und senkte sich. Ihr schwarzes Bikinioberteil spannte, als geriete ihr ganzer Körper in Unordnung.
Alessandro lächelte, während in seinen Augen Tränen blitzten. Schweiß glänzte auf seiner nackten Haut, den Muskeln seiner Oberarme und auf seinem Bauch.
Er machte einen Schritt auf sie zu und sie sah ihm an, dass er sie küssen wollte.
Sie wich zurück und schüttelte den Kopf.
Sein Lächeln wurde eine Spur schwächer, als allmählich die Wirklichkeit einen Weg in seine Gedanken fand und auch in ihre und sie beide wieder sie selbst waren und erfassten, wie es um sie herum aussah und wie sie auf jemanden wirken mussten, der unverhofft zur Tür hereinkam.
Wieder ertönte das helle, gläserne Klingeln.
Näher diesmal. Draußen auf der Treppe.
Alessandro schob alle losen Papiere und Fotos in eine der farbbeklecksten Plastikmappen und presste sie mit der linken Hand vor seine Brust. In der rechten hielt er das Messer. Er wirbelte Richtung Tür herum.
Rosa glitt zum Eingang des Ateliers, den schweißnassen Griff des Skalpells umklammert. Schlängelte sich in einer raschen Bewegung um den Türpfosten, blickte hinaus auf den Gang.
Vor lichtdurchflutetem Weiß stand verloren eine zierliche Gestalt.
Ein Mädchen, jünger als sie.
Um ihren Fußknöchel lag ein schmaler Ring aus Metall. Eine silberne, bleistiftdünne Kette führte über den Boden und verschwand straff gespannt hinter der nächsten Ecke.
Als das Mädchen sich rührte, um zu sprechen, erzeugten die Kettenglieder ein hauchfeines Glöckchenklingeln.
»Seid ihr gekommen, um mich zu töten?«
Das Mädchen an der Kette
I hr Name war Iole Dallamano. Sie sprach leise und langsam. Das Skalpell in Rosas Hand schien ihr keine Angst einzujagen.
Sie war fünfzehn, sah aber jünger aus, trotz der Schatten unter ihren traurigen Augen. Ihr schwarzes Haar war kurz geschnitten. Einer der Männer, die regelmäßig herkamen, hatte das getan, sagte sie. Sonst aber hatten sie sie nicht angerührt. Alle paar Monate, wenn ihr Haar wieder lang war, wurde es von einem von ihnen notdürftig gestutzt. Iole hatte sie gefragt, weshalb sie ihr nicht gleich die Kehle durchschnitten, aber darauf hatte man ihr keine Antwort gegeben.
All das erzählte sie Rosa und Alessandro, noch bevor sie den Fuß der Treppe erreichten. Iole war barfuß und bewegte sich auf den Glasstufen vollkommen lautlos – wäre da nicht die Kette an ihrem Knöchel gewesen. Sie musste achtzig oder hundert Meter lang sein, reichte beinahe durch das gesamte Haus, aber sie war zu kurz, als dass Iole bis zum Atelier im Obergeschoss gelangen konnte. Ihre Bewegungsfreiheit endete ein paar Meter vor der
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