Arkadien 03 - Arkadien fällt
sich um.
Er war fort.
Erschrocken machte sie einen Satz nach hinten und schwenkte die Pistole herum.
Sie hatte nicht gehört, dass er sich entfernt hatte, aber nun entdeckte sie ihn ein gutes Stück entfernt an einem schweren Stahlschott in der Seitenwand des Saals. Es erinnerte sie unwillkürlich an den Eingang zum Kühlkeller des Palazzo Alcantara.
»Kannst du nicht aufhören mit diesem Ding herumzufuchteln?« Er deutete auf die Waffe. »Schreckhaft, wie du bist, wirst du noch abdrücken, ohne es zu wollen.«
»Glaub ja nicht, dass du weißt, was ich will«, fuhr sie ihn an. »Du weißt überhaupt nichts über mich.«
»Ich weiß, dass du Apollonio sehen willst.«
Leiser fragte sie: »Ist er da drin?«
Er legte beide Hände an das Kurbelrad, um die Kühlhaustür zu öffnen. »Natürlich ist er das.«
Der Eingang schwang auf. Eine Woge beißender Kälte schob sich auf Rosa zu.
»Geh du vor«, befahl sie.
»Glaubst du wirklich, ich will dich einsperren?«
»Wäre hier unten ja nichts Neues.«
Er seufzte, merklich getroffen von ihrem nimmermüden Misstrauen, dann trat er durch das Schott. Mit ein paar Schritten Abstand folgte sie ihm in die Kälte.
Der Kühlraum war ein langer Schlauch in hässlichem Neonschein, mit Kunststoffregalen an den weiß gekachelten Wänden. Klarsichttüten waren darauf gestapelt, an den Innenseiten hatten sich Eiskristalle gebildet – so als hätte das, was darin lag, bis zuletzt geatmet. Das war Unsinn, sie wusste das, und doch sah sie es einen Moment lang vor sich: Hunderte pulsierende Tüten in den Fächern, Wände aus zuckendem Leben unter eisbleichem Plastik.
»Rosa.«
Die Tüten lagen still. Alles in diesem Kühlraum war steif gefroren. Nichts rührte sich in den Regalen.
»Kommst du?« Er deutete auf eine Wand aus elastischen Kunststoffstreifen, die den hinteren Teil des Raumes vom vorderen trennte.
Mit einem harten Schlag lockerte er den überfrorenen Vorhang. Es knirschte, als die Eisschicht darauf nachgab. Mit beiden Armen schob er das Plastik beiseite und öffnete für Rosa einen Durchgang.
Sie fasste die Pistole fester und zögerte.
Hinter weißen Atemwolken verriet seine Miene Besorgnis. »Lieber nicht?«
Vielleicht war es ein Fehler, sich ihm anzuvertrauen. Womöglich war das alles hier falsch, die dümmste aller ihrer dummen Ideen.
Leicht gebückt trat sie an ihm vorbei durch den Vorhang. Er ließ sie zwei Schritte vorausgehen, dann folgte er ihr und blieb neben ihr stehen.
»Bist du sicher, dass du das willst?«, fragte er mit mehr Anteilnahme, als sie erwartet hatte.
»Ja.«
Sie trug noch immer T-Shirt und Jeans und fror bis auf die Knochen. Besser, sie brachte es schleunigst hinter sich.
Im hinteren Teil des Kühlraums standen keine Regale, nur fünf Liegen auf Gummirollen, wie sie in Krankenhäusern benutzt wurden. Vier davon waren leer.
Auf der vorderen Liege, nur wenige Schritte vom Lamellenvorhang entfernt, lag ein Körper, zugedeckt mit einer schwarzen Plane bis hinauf zum Kehlkopf. Sie trat näher heran, um das Gesicht zu betrachten.
Die Züge waren eingefallen, die Haut fast weiß. In seiner Stirn klaffte ein Loch, kaum größer als die Öffnung eines Bleistiftspitzers. Kein Tropfen Blut; vielleicht war es abgewischt worden, bevor man ihn tiefgefroren hatte.
Dass er aussah wie der Mann neben ihr, war keine Überraschung und dennoch ein Schock. Das Dreieck um seine Lippen, gebildet von den beiden Falten, die von den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln reichten, erschien schattig, so als wäre darunter ein Teil des Gesichts nach innen gesunken.
Ihr Blick wanderte hinauf zu dem Einschussloch in der Stirn. »Das warst du?«, fragte sie ruhig.
»Ja.«
»Wann?«
»Als er hierher zurückkam« – er zögerte kurz – »aus New York. Vor gut einem Jahr. Sigismondis war kein besonders sorgfältiger Gefängniswächter, und mit jedem neuen Jahr seiner Krankheit ist er nachlässiger geworden. Eines Tages bekam ich meine Chance, und ich hab sie genutzt. Nachdem ich frei war, habe ich auf ihn gewartet, hier unten im Bunker.«
Sie streckte die Hand nach dem Kopf des Toten aus. Hart und kalt wie ein Eisblock. Langsam beugte sie sich über ihn, um ihm von vorn ins Gesicht zu blicken. Ihre Hand berührte die Plane über seiner Brust. Die Falten waren fast steif gefroren. Trotzdem griff sie zu, spürte, wie das Material unter dem Druck nachgab, und krallte sich noch fester hinein.
»Nicht.« Seine Finger auf ihrer Schulter, ganz sanft. »Das
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