Arkadien 03 - Arkadien fällt
gerollt. Jemand zerschnitt ihre Fesseln und zog sie unter ihren Körpern hervor. Die Stricke um ihre Handgelenke blieben, aber ihre Beine waren frei. Die Fesselung hatte tief in ihre Haut eingeschnitten.
Einer der Männer zerrte Rosa auf die Füße, und wie nicht anders erwartet, sackte sie gleich wieder in die Knie. Von den Hüften abwärts spürte sie nichts mehr, selbst das Kribbeln des gestauten Blutes war verschwunden. Ebenso das Brennen der Einstiche an ihrer Wade.
Der Mann, der sie aufgerichtet hatte, hielt sie von hinten unter den Achseln fest wie eine Puppe. Alessandro wurde von zwei Kerlen gleichzeitig gepackt und sah so verbissen aus, als wollte er ihnen mit bloßen Zähnen an die Kehle gehen. Sie wurde umgedreht und stand jetzt neben ihm.
Der Sonnenuntergang in ihrem Rücken tauchte alles in ein feuriges Rot: die Sonnenbrillen der Männer und Frauen, die sich auf der Fahrbahn versammelt hatten; ihre Gesichter, glänzend vor Anspannung; sogar ihre schwarzen Anzüge und teuren Kostüme wirkten wie in Blut getaucht. Es waren vierzig oder fünfzig, viele kannte Rosa vom Sehen, darunter auch zwei ihrer entfernten Cousinen aus Mailand – zweifellos die Drahtzieherinnen des Komplotts gegen sie. Rosa fand es nur angemessen, dass sie sich nicht an die Namen der beiden erinnern konnte. Sie waren Schwestern, Enkelinnen von Costanzas Cousine. Lamien natürlich.
Der Hungrige Mann stand nicht unmittelbar hinter ihr, wie sie bisher angenommen hatte, sondern ein ganzes Stück entfernt. Ein Beweis mehr für die Macht seiner Stimme. Etwas Beschwörendes, Betörendes lag darin, und nun, da sie ihn sehen konnte, verstand sie, warum einige ihn für den wahren Lykaon hielten und nicht den geschickten Nachahmer und Manipulator erkannten, der er in Wirklichkeit war.
»Willkommen.« Er trat aus dem Schatten des Transporters und kam langsam auf Alessandro und Rosa zu. »Ich bedauere, dass man euch schlecht behandelt hat.« Ein fahles Leuchten gloste in seinen Augen, der Blick des Wolfes bei Nacht; er sah Mirella an, die ein wenig abseits stand und zusammenzuckte. Danai rückte einen Schritt von ihrer Verbündeten ab, so als fürchtete sie, das Stigma seines Vorwurfs könne auf sie selbst abfärben.
Der Hungrige Mann – dessen wahrer Name nicht vergessen, aber längst bedeutungslos geworden war – hatte sich kaum verändert, seit das einzige Foto geschossen worden war, das Rosa von ihm kannte. Darauf hatte er ausgesehen wie eine Mischung aus Jesus von Nazareth und dem Anführer einer Studentenrevolte. Auch heute trug er das dunkle Haar noch immer schulterlang, sein Vollbart war sauber gestutzt. Die grauen Schläfen hatte er schon auf dem Bild gehabt, das während seiner Verhaftung vor dreißig Jahren gemacht worden war. Sie hätte ihn auf Ende vierzig geschätzt, nie und nimmer auf beinahe siebzig. Es war, als wäre sein Körper in der Zelle konserviert worden.
Sie hatte einen schäumenden Irren erwartet, eine Art Hohepriester mit wallenden Roben. Wie sehr sie sich getäuscht hatte, verriet nur, dass ihr die Realität der Arkadischen Dynastien nach wie vor fremd war.
Er trug einen schwarzen Nadelstreifenanzug, ein weißes Hemd mit Seidenkrawatte und einen langen Mantel. Wäre da nicht das lange Haar gewesen, man hätte ihn für einen Geschäftsmann halten können, der jeden Moment eine Powerpoint-Präsentation starten würde.
Er schenkte Rosa ein Lächeln, das beinahe höflich wirkte. Dann trat er vor Alessandro, der sich im Griff seiner Bewacher aufbäumte und die Zähne fletschte.
»Du bist also der junge Carnevare. Wir hatten noch nicht das Vergnügen.«
»Stimmt«, entgegnete Alessandro, »wir haben eine Menge nachzuholen.« Und dabei stieß er den Kopf mit aller Gewalt nach vorn, versuchte sich von den Männern loszureißen und schnappte nach der Kehle seines Gegenübers wie ein Raubtier, das vergessen hatte, dass es in einem Menschenkörper gefangen war.
Einen Augenblick lang war der Hungrige Mann tatsächlich überrascht und musste einen Schritt zurücktreten. Er geriet nicht ernsthaft in Bedrängnis, aber keinem der Anwesenden konnte entgangen sein, dass ihn der Angriff überrumpelt hatte.
Rosa hätte Angst um Alessandro haben müssen, doch sie spürte nur Stolz und die Bereitschaft, mit ihm zu sterben.
Mirella, die wenige Meter entfernt stand, stieß ein Schlangenzischen in Alessandros Richtung aus. Rosa fand, dass die Hybride niemals zuvor so sehr wie ein Reptil ausgesehen hatte, mit ihrer höckerigen
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