Arkadien 03 - Arkadien fällt
Schritt von der Brüstung zurück. Rosa drehte sich nicht zu ihm um, aber als er sprach, konnte sie hören, dass er lächelte.
»Dieser Tag ist gekommen«, sagte er, »und mit ihm euer aller König.«
Die Zeremonie
D ie Dämmerung stieg zum Scheitel des Staudamms auf. In spätestens einer Stunde würde es vollkommen dunkel sein, aber schon jetzt füllte sich der Abgrund mit Finsternis.
Auf dem Asphalt war ein Halbkreis aus Lichtern entzündet worden, Phosphorlampen, die eisweiße Helligkeit über die Fahrbahn warfen. Außerhalb davon warteten die Vertreter der Dynastien. Der Transporter war versetzt worden und parkte fünfzig Meter entfernt am Rand der Fahrbahn neben einem Betonquader, einem Einstieg für Techniker, die diesen Staudamm niemals warten würden.
Im Zentrum des Halbrunds aus Lichtern und Gestalten, unweit der Brüstung, standen Rosa und Alessandro einander mit gefesselten Händen gegenüber. Der Hungrige Mann vollzog ihre Hochzeitszeremonie.
Kurz zuvor war ihnen eine weitere Injektion verabreicht worden, erneut in die Oberarme. Rosas Schulter brannte mittlerweile fast ebenso wie ihr Unterschenkel. Danai, der sie die Entzündung zu verdanken hatte, war zwischen den anderen Arachnida verschwunden. Die Männer und Frauen standen ein Stück außerhalb des Lichterkreises. Ihre Gesichter wurden von unten beschienen und schimmerten bleich wie blanker Knochen über ihrer schwarzen Kleidung. Manche zuckten, als müssten sie gegen den Drang ankämpfen, sich zu verwandeln.
Hinter Rosa und Alessandro standen je zwei Bewacher mit gefüllten Injektoren und entsicherten Pistolen. Rosa hatte es vorerst aufgegeben, sich zu wehren. Alessandro hatte einen letzten Versuch unternommen, bevor die Zeremonie begonnen hatte, aber angesichts der Überlegenheit ihrer Gegner war das zwecklos gewesen. Solange sie sich nicht verwandeln konnten, waren ihre Chancen gleich null.
Trotzdem gab es noch etwas, das Rosa tun konnte. Sie sparte sich ihre Kräfte auf für den Augenblick, in dem sie von ihr verlangen würden, Alessandro zu töten. Sie mochten ihr drohen, aber womit drohte man jemandem, der den sicheren Tod vor Augen hatte? Sie konnten ihr Schmerzen zufügen, aber auch die würde sie aushalten. Um nichts in der Welt würde sie ihm etwas zu Leide tun. Niemals.
Während der Hungrige Mann etwas rezitierte, das eine alte Überlieferung sein mochte oder aber ein paar Zeilen, die er sich im Gefängnis ausgedacht hatte, war ihr Blick fest auf Alessandros Augen gerichtet. Abwarten, den richtigen Moment abpassen. Noch war es nicht so weit. Noch standen sie nur da, Braut und Bräutigam, und ließen den Sermon des Hungrigen Mannes über sich ergehen.
Rosa brodelte die Angst bis zum Hals. Manchmal stolperte ihr Herzschlag und sie bekam kaum Luft, weil ihre Kehle wie zugeschnürt war. Aber das behielt sie so gut es ging für sich und unterdrückte jedes Zittern.
»Ich muss dir was sagen«, flüsterte sie.
Ein Lächeln in seinen Augen, als wollte er entgegnen: Das ist die beste Gelegenheit.
Der Hungrige Mann redete weiter. Rosa hörte gar nicht hin, ein bedeutungsloses Silbenrauschen im Hintergrund.
Sie suchte nach den richtigen Worten, aber die gab es nicht. Sie konnte es nur so sagen, wie sie es fühlte, auf die Gefahr hin, dass es ungelenk klang oder albern. Was sie nicht sagte, war: Ich liebe dich. Das wusste er längst.
Stattdessen flüsterte sie: »Alles, was wichtig war, haben wir richtig gemacht. Vom ersten Augenblick an.«
Er nickte. »In jeder Minute.«
»Es war richtig, dass du mich im Flugzeug angesprochen hast. Und dass du mir das Buch geschenkt hast, Die Fabeln des Äsop . Es war richtig, dass wir zum Ende der Welt gefahren sind und du mir gesagt hast, dass es eigentlich gar kein Ende ist, weil die Welt drüben weitergeht, auf der anderen Seite des Abgrunds. Es war richtig, dass wir zusammen in der Straße von Messina getaucht sind und nach den Statuen gesucht haben. Und dass du mir beigebracht hast, den Tieren zuzuhören, in diesem Zoo am Ätna. Alles, alles, alles war richtig.«
Die Umgebung war wie ausgeblendet, die Stimme des Hungrigen Mannes, ihre Bewacher mit den Waffen, die Silhouetten der anderen.
Ihre Hände waren vor ihren Körpern gefesselt. Rosa streckte ihre Arme aus und er die seinen, und dann verschränkten sie ihre Finger miteinander, als wäre dies ihre eigene, ganz private Zeremonie, ein Augenblick, der nur für sie beide existierte.
Über den schroffen Kanten der Berge lag ein letztes rotes
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