Arm und Reich
in Europa verwendeten, als sie auch auf dem australischen Festland weitgehend außer Gebrauch gekommen waren. Am anderen Ende des Spektrums finden wir Aborigines im Südosten Australiens, die raffinierte Methoden zur Fischzucht entwickelten, die unter anderem den Bau von Kanälen, Wehren und speziellen Fischfallen umfassen.
Demnach gibt es zwischen den Gesellschaften ein und desselben Kontinents erhebliche Unterschiede in der Art und Anzahl von Erfindungen sowie der Einstellung zu ihnen. Außerdem kommt es im Laufe der Zeit innerhalb von Gesellschaften zu Veränderungen. So sind die islamischen Gesellschaften des Nahen Ostens heute relativ konservativ und bilden keineswegs die Speerspitze des technischen Fortschritts. Dagegen war der mittelalterliche Islam in der gleichen Region technisch fortschrittlich und innovationsfreudig. Der Alphabetisierungsgrad war dort in jener Zeit viel höher als in Europa, und das Erbe der klassischen griechischen Kultur wurde in einem solchen Maße assimiliert, daß uns heute zahlreiche griechische Werke nur durch ihre arabischen Übersetzungen bekannt sind. Zu den islamischen Erfindungen von damals zählen raffinierte Windmühlen, die Trigonometrie und das Lateinersegel; große Fortschritte wurden in der Metallverarbeitung, im Maschinenbau, in der Chemotechnik und im Bewässerungswesen gemacht; zudem wurden Papier und Schießpulver aus China übernommen und nach Europa weitervermittelt. Im Mittelalter verlief der Strom technischer Neuerungen eindeutig von islamischen Gegenden nach Europa und nicht, wie heute, andersherum. Erst ab ca. 1500 n. Chr. kehrte sich die Richtung langsam um.
Auch in China änderte sich die Innovationsfreudigkeit im Laufe der Geschichte. Bis ca. 1450 n. Chr. war das Reich der Mitte technisch sehr viel innovativer und fortschrittlicher als Europa, ja selbst als der mittelalterliche Islam. Die lange Liste der Erfindungen chinesischen Ursprungs umfaßt beispielsweise Achterruder, ausgeklügeltes Geschirr für Zugtiere, Drachen, Drucktechnik (sieht man von der Scheibe von Phaistos ab), Gußeisen, Kanalschleusen, Magnetkompaß, Papier, Porzellan, Schubkarre, Tiefbohrung und verbessertes Schießpulver. Dann endete Chinas innovative Phase aus Gründen, über die wir am Ende des Buchs spekulieren werden. Westeuropa und seine nordamerikanischen Ableger stehen aus heutiger Sicht an der vordersten Front der technischen Entwicklung, obgleich das westliche Europa noch am Ende des Mittelalters technisch rückständiger war als alle anderen »zivilisierten« Regionen der Alten Welt.
Deshalb ist es falsch anzunehmen, daß es Kontinente mit eher innovativen Gesellschaften und solche mit eher konservativen gibt. Auf jedem Kontinent existierten zu jedem Zeitpunkt innovative neben konservativen Gesellschaften. Hinzu kommt, daß die Innovationsfreudigkeit innerhalb einzelner Regionen im Laufe der Geschichte Schwankungen unterliegt.
Bei Abwägung des Gesagten kommt man zu dem Schluß, daß auch nichts anderes zu erwarten wäre, wenn eine Vielzahl unabhängiger Faktoren die Innovationsfreudigkeit einer Gesellschaft bestimmt. Ohne genaue Kenntnis all dieser Faktoren ist keine Vorhersage möglich. Sozialwissenschaftler forschen deshalb weiter nach den spezifischen Gründen, warum sich die Innovationsbereitschaft des Islam, Chinas und Europas änderte und warum die Chimbu, Ibo und Navajo gegenüber neuen Techniken aufgeschlossener waren als ihre Nachbarn.
Bei der Suche nach dem groben Verlaufsmuster der Geschichte interessiert jedoch nicht, welches in jedem dieser Fälle die spezifischen Gründe waren. Paradoxerweise macht die Vielzahl der Faktoren, die über die Innovationsfreudigkeit oder -feindschaft von Gesellschaften entscheiden, dem Historiker die Arbeit leichter, erhalten doch die Unterschiede zwischen verschiedenen Gesellschaften so im Grunde den Charakter einer Zufallsvariablen. Demnach wird sich bei Betrachtung einer genügend großen geographischen Einheit (beispielsweise eines ganzen Kontinents) zu jedem beliebigen Zeitpunkt ein Teil der dortigen Gesellschaften mit hoher Wahrscheinlichkeit als innovationsfreudig erweisen.
Welchen Ursprung haben eigentlich Innovationen? Für die meisten Gesellschaften mit Ausnahme der wenigen, die in völliger Isolation existierten, lautet die Antwort hierauf, daß viele, wenn nicht gar die Mehrzahl neuer Techniken nicht selbst erfunden, sondern von anderen
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