Arm und Reich
Gesellschaften übernommen wurden. Die relative Bedeutung lokaler Erfindungen, verglichen mit denen fremder Herkunft, hängt von zwei Hauptfaktoren ab: erstens, wie naheliegend die Erfindung einer bestimmten Technik war, und zweitens, wie weit die betreffende Gesellschaft räumlich von anderen entfernt war.
Einige Erfindungen resultierten unmittelbar aus dem Umgang mit den Stoffen der Natur. Sie hatten viele unabhängige Ursprünge an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte. Ein Beispiel, das wir schon ausführlich behandelt haben, ist die Pflanzendomestikation mit ihren mindestens neun unabhängigen Geburtsstätten. Ein weiteres ist die Töpferei, möglicherweise entstanden aus der Beobachtung des Verhaltens erhitzter und getrockneter Tonerde in der Natur. Die ersten Töpferwaren tauchten in Japan vor rund 14 000 Jahren auf, in Vorderasien und China vor rund 10 000 Jahren und später auch im Amazonasgebiet, in der afrikanischen Sahelzone, im Südosten Nordamerikas und in Mexiko.
Ein Beispiel für eine sehr viel schwierigere Erfindung ist die Schrift, zu der man nicht durch Beobachtungen in der Natur geleitet wird. Wie wir in Kapitel 11 sahen, hatte die Schrift nur sehr wenige unabhängige Entstehungsorte, und wie es scheint, wurde das Alphabet sogar nur ein einziges Mal in der Geschichte erfunden. Andere schwierige Erfindungen waren beispielsweise das Wasserrad, die Handmühle, der Magnetkompaß, die Windmühle und die Camera obscura – alle wurden in der Alten Welt nur ein- oder zweimal und in der Neuen Welt überhaupt nicht gemacht.
Derart komplexe Erfindungen wurden gewöhnlich von außen übernommen, da sie sich schneller ausbreiteten, als sie an verschiedenen Orten neu erfunden werden konnten. Ein gutes Beispiel ist das Rad, das erstmals für die Zeit um 3400 v. Chr. im Gebiet des Schwarzen Meeres belegt ist und dann innerhalb der nächsten Jahrhunderte an vielen Orten Europas und Asiens auftauchte. All diese frühen Räder der Alten Welt sind nach dem gleichen Prinzip konstruiert: Es handelte sich um hölzerne Scheiben aus drei zusammengefügten Holzstücken, nicht etwa um eine Felge mit Speichen. Dagegen waren die einzigen Räder indianischer Kulturen, die uns von Darstellungen auf mexikanischen Tongefäßen bekannt sind, aus einem Stück Holz gefertigt, was auf eine zweite unabhängige Erfindung schließen läßt – wofür auch andere Erkenntnisse über die Isolation der Neuen Welt von den Zivilisationen der Alten Welt sprechen.
Niemand käme auf die Idee, daß jene sonderbare Bauweise des Rades in der Alten Welt nur zufällig im Abstand von wenigen Jahrhunderten an vielen verschiedenen Orten der Alten Welt auftauchte, nachdem der Mensch zuvor sieben Millionen Jahre lang radlos existiert hatte. Vielmehr war es sicher so, daß sich das Rad aufgrund seiner Nützlichkeit rasch von dem einen Ort seiner Erfindung in verschiedene Richtungen ausbreitete. Andere komplizierte Techniken, die nach ihrer Erfindung im westlichen Asien den Weg in viele andere Teile der Alten Welt fanden, waren unter anderem das Türschloß, der Flaschenzug, die Handmühle, die Windmühle – und natürlich das Alphabet. Ein Beispiel aus der Neuen Welt ist die Metallverarbeitung, die sich von den Anden über Panama nach Mesoamerika ausbreitete.
Wenn eine Erfindung von offensichtlichem Nutzen irgendwo auftaucht, breitet sie sich meist auf einem von zwei Wegen aus. Entweder erfahren andere Gesellschaften von ihr, sind für sie empfänglich und übernehmen sie, oder die Gesellschaften, die nicht im Besitz der neuen Erfindung sind, verlieren gegenüber der Erfindergesellschaft an Macht und werden von ihr unterworfen oder ausgelöscht, wenn die neu gewonnene Überlegenheit entsprechend groß ist. Ein anschauliches Beispiel für eine solche Entwicklung ist die Verbreitung von Musketen unter den neuseeländischen Maori-Stämmen. Um 1818 gelangte der Stamm der Ngapuhi in den Besitz von Musketen, die sie von europäischen Händlern erwarben. In den nächsten 15 Jahren wurde Neuseeland von den sogenannten Musketenkriegen erschüttert, in deren Verlauf musketenlose Stämme sich entweder ebenfalls in den Besitz von Musketen brachten oder von Stämmen, die bereits damit ausgerüstet waren, unterjocht wurden. Die Kriege führten dazu, daß sich die Muskete bis 1833 auf ganz Neuseeland durchgesetzt hatte: Alle überlebenden Maori-Stämme waren nun
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