Arm und Reich
meisten Laien, aber auch viele Historiker gehen offen oder stillschweigend davon aus, daß die Antwort auf diese Frage ja lauten muß. So wird angenommen, die australischen Aborigines hätten Grundeinstellungen gemein, die zu ihrer technischen Rückständigkeit beitrügen: Sie seien konservativ und lebten in ihrer Phantasie in einem mystischen Schöpfungszeitalter, statt sich im Hier und Jetzt um die praktische Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu kümmern. Ein prominenter Historiker und Afrikaforscher sagte einmal über die Afrikaner, sie seien nach innen gewandt und ließen jenen Ausbreitungsdrang vermissen, den die Europäer besäßen.
Behauptungen wie diese sind pure Spekulation. Noch nie wurde eine vergleichende Untersuchung einer Vielzahl von Gesellschaften mit ähnlichen sozioökonomischen Lebensbedingungen auf zwei Kontinenten durchgeführt, die als Ergebnis systematische Unterschiede in den Grundeinstellungen der jeweiligen Bewohner ans Licht förderte. Statt dessen beißt sich die Argumentation meist in den Schwanz: Aus der Existenz technischer Unterschiede wird auf entsprechende Unterschiede in den Werten und Einstellungen geschlossen.
In der Realität beobachte ich in Neuguinea immer wieder, daß sich die verschiedenen dortigen Gesellschaften in der Denkweise stark voneinander unterscheiden. Wie in Europa und Amerika existieren auch in Neuguinea konservative, jedem Wandel abholde Gesellschaften neben innovativeren, die nach bewußter Auswahl Neues übernehmen. Ein Resultat dieser Vielfalt ist, daß die innovationsfreudigeren Gesellschaften nach dem Eintreffen der Europäer begannen, westliche Technik zu nutzen, um die Oberhand über ihre konservativen Nachbarn zu erringen.
Dazu ein Beispiel: Als die Europäer in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts erstmals das Hochland im Osten Neuguineas erreichten, »entdeckten« sie mehrere Dutzende steinzeitlich lebender Stämme, die noch nie Kontakt zu Weißen gehabt hatten. Von ihnen zeigte der Stamm der Chimbu eine besonders hohe Bereitschaft zur schnellen Übernahme westlicher Technik. Nachdem Chimbu-Stammesangehörige weiße Siedler beim Pflanzen von Kaffee beobachtet hatten, wurden sie selbst zu Kaffeepflanzern und verkauften die Ernte gegen klingende Münze. Einmal, im Jahr 1964, begegnete ich einem 50jährigen Chimbu, der nicht lesen konnte, noch den traditionellen Grasrock trug und in einer Zeit aufgewachsen war, als der Gebrauch von Steinwerkzeugen in seiner Umgebung noch die Norm war. Er hatte es als Kaffeepflanzer zu Reichtum gebracht und von seinem Vermögen 100 000 Dollar in eine Sägemühle investiert; obendrein hatte er sich eine Lkw-Flotte zugelegt, um Kaffeesäcke und Baumstämme zum Markt transportieren zu können. Im krassen Gegensatz zu den Chimbu steht das benachbarte Hochlandvolk der Daribi, die ich acht Jahre lang studiert habe. Sie sind äußerst konservativ und interessieren sich so gut wie überhaupt nicht für neue Technik. Als zum erstenmal ein Hubschrauber im Gebiet der Daribi landete, warfen sie nur einen kurzen Blick darauf und wandten sich gleich wieder ab. Ich bin ziemlich sicher, daß die Chimbu sofort versucht hätten, über die Möglichkeit eines Probeflugs zu verhandeln. Dieser Mentalitätsunterschied hat dazu geführt, daß die Chimbu mittlerweile auf das Land der Daribis vorrücken, dort Plantagen anlegen und die Daribi für sich arbeiten lassen.
Auch auf jedem anderen Kontinent erwiesen sich bestimmte Gesellschaften als besonders aufgeschlossen für Innovationen, übernahmen selektiv neue Techniken und integrierten sie erfolgreich in ihre Kultur. In Nigeria sind die Ibo das lokale Pendant zu den neuguineischen Chimbu. Unter den nordamerikanischen Indianern sind heute die Navajo der zahlenmäßig größte Stamm. Bei der Ankunft der Europäer waren sie nur einer von mehreren hundert Stämmen, doch sie erwiesen sich als besonders robust und zeigten die Fähigkeit, die für sie geeigneten Innovationen geschickt auszuwählen. So übernahmen sie westliche Farbstoffe für ihre Webarbeit, wurden zu Silberschmieden und Ranchern und arbeiten heute als Lkw-Fahrer, ohne indes auf ihre traditionelle Wohnform zu verzichten.
Selbst unter den angeblich so konservativen australischen Aborigines gibt es neben erzkonservativen Gesellschaften auch innovations freundliche. Das eine Extrem bilden die Tasmanier, die Steinwerkzeuge noch Zehntausende von Jahren nach deren Ablösung
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