Arm und Reich
Jahrtausende (Kapitel 11). In der Geschichte der Menschheit wurde die Schrift nur einige wenige Male neu erfunden, und zwar in Gebieten, in denen die Landwirtschaft innerhalb der jeweiligen Regionen am frühesten aufgekommen war. Alle anderen Schriftkulturen übernahmen ihr Alphabet oder jedenfalls die Idee der Schrift von einem jener wenigen Hauptzentren. Beim Studium der Weltgeschichte läßt sich deshalb anhand der Schrift eine weitere wichtige Ursachenkonstellation besonders gut erforschen: der Einfluß der Geographie auf die Schnelligkeit und Leichtigkeit der Ausbreitung von Ideen und Erfindungen.
Was für die Schrift gilt, gilt auch für die Technik (Kapitel 12). Eine wichtige Frage lautet, ob es bei technischen Innovationen so sehr auf das seltene Genie einzelner Erfinderpersönlichkeiten ankommt und ob eine solche Vielzahl schwer zu systematisierender kultureller Faktoren hineinspielt, daß allgemeine Gesetzmäßigkeiten nicht ermittelt werden können. Wie wir sehen werden, erleichtert die Vielfalt kultureller Faktoren paradoxerweise gerade die Aufdeckung solcher Gesetzmäßigkeiten des technischen Fortschritts. Indem die Landwirtschaft Bauern in die Lage versetzte, Überschüsse zu erzeugen, gestattete sie es bäuerlichen Gesellschaften, sich handwerkliche Spezialisten zu leisten, die selbst keine Nahrung produzierten und ihre Energie statt dessen der Entwicklung neuer Techniken widmen konnten.
Neben Schreibern und Erfindern ermöglichte die Landwirtschaft den Bauern überdies auch den Unterhalt von Politikern (Kapitel 13). Bei umherziehenden Scharen von Jägern und Sammlern herrschen vergleichsweise egalitäre Zustände, und die Politik beschränkt sich auf das Territorium der jeweiligen Gruppe sowie auf wechselnde Allianzen mit Nachbargruppen. Mit dem Aufkommen seßhafter, Nahrung produzierender, dichter Populationen ging der Aufstieg von Fürsten, Königen und Bürokraten einher. Bürokratische Apparate waren nicht nur die Voraussetzung für die Ausübung der Herrschaft über große, dicht besiedelte Gebiete, sondern auch für den Unterhalt stehender Heere, die Aussendung von Flotten zur Erkundung ferner Länder und zum Organisieren von Eroberungskriegen.
Teil IV (»Reise um die Erde in fünf Kapiteln«, Kapitel 14–18) wendet die in Teil II und III gewonnenen Erkenntnisse auf jeden der Kontinente sowie einige wichtige Inseln an. Gegenstand von Kapitel 14 ist die Geschichte Australiens und der großen Insel Neuguinea, die einst mit dem australischen Festland verbunden war. Als Heimat von Kulturen, die bis in die Neuzeit auf einfachstem technischem Stand verharrten, und als einziger Kontinent, der die Landwirtschaft nicht eigenständig hervorbrachte, ist Australien für Theorien über interkontinentale Unterschiede zwischen menschlichen Kulturen ein entscheidender Prüfstein. Wir werden sehen, warum australische Aborigines Jäger und Sammler blieben, während selbst im benachbarten Neuguinea die meisten Stämme zur Landwirtschaft übergingen.
In Kapitel 15 und 16 werden die Entwicklungen in Australien und Neuguinea in eine Betrachtung der Gesamtregion einschließlich des ostasiatischen Festlands und der Pazifikinseln einbezogen. Der Aufstieg der Landwirtschaft in China war Auslöser mehrerer umfassender prähistorischer Ausbreitungsbewegungen von menschlichen Populationen, kulturellen Merkmalen oder beidem zugleich. Eine fand in China selbst statt und brachte das politische und kulturelle Phänomen Chinas hervor, wie wir es heute kennen. Eine andere Bewegung hatte zur Folge, daß Jäger- und Sammlerpopulationen in nahezu dem gesamten südostasiatischen Raum verdrängt wurden; an ihre Stelle traten bäuerliche Einwanderer, deren ursprüngliche Heimat im Süden Chinas lag. Eine dritte Ausbreitungsbewegung, die austronesische Expansion, führte in ähnlicher Weise zur Verdrängung der Jäger- und Sammlerpopulationen auf den Philippinen und in Indonesien; während dabei selbst die entlegensten Inseln Polynesiens besiedelt wurden, gelang es nicht, Australien und den größten Teil Neuguineas zu kolonisieren. All diese Kollisionen von ostasiatischen und pazifischen Völkern sind für das Studium der Weltgeschichte von doppeltem Interesse: Zum einen führten sie zur Entstehung von Ländern, in denen heute ein Drittel der Weltbevölkerung lebt und die immer mehr wirtschaftliche Macht auf sich vereinen. Zum anderen eignen sie sich
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