Arm und Reich
abzurücken und die biologische Forschung als neues Ziel zu wählen. Während meiner gesamten Schulzeit und in den ersten vier Jahren an der Universität waren jedoch Sprachen, Geschichte und Schreiben die Schwerpunkte meiner Ausbildung gewesen. Selbst nachdem ich beschlossen hatte, in Physiologie zu promovieren, hängte ich im ersten Jahr des Fachstudiums die Naturwissenschaften beinahe an den Nagel, um statt dessen Linguist zu werden.
Seit Beendigung meiner Doktorarbeit im Jahr 1961 habe ich meine wissenschaftliche Betätigung zwischen zwei Bereichen aufgeteilt: Molekularphysiologie einerseits, Evolutionsbiologie und Biogeographie andererseits. Als unvorhergesehener Pluspunkt für die Arbeit an diesem Buch sollte sich erweisen, daß die Evolutionsbiologie als historische Naturwissenschaft zu anderen Methoden gezwungen ist als jene Disziplinen, die neue Erkenntnisse hauptsächlich im Labor gewinnen. Aufgrund dieser Erfahrungen waren die Schwierigkeiten beim Erarbeiten einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise historischer Zusammenhänge für mich nicht ganz neu. Und da ich von 1958 bis 1962 in Europa gelebt und dort Menschen kennengelernt habe, deren Leben durch die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts in brutalster Weise durcheinandergewirbelt worden war, hatte ich zudem schon früh angefangen, mir Gedanken über das Wirken und Ineinandergreifen historischer Kausalketten zu machen.
Die letzten 33 Jahre brachten mich im Rahmen evolutions biologischer Forschungen in engen Kontakt mit einer Vielzahl menschlicher Kulturen. Mein Spezialgebiet ist die Vogelevolution, über die ich in Südamerika, im südlichen Afrika, in Indonesien, Australien und vor allem Neuguinea geforscht habe. Durch das Zusammenleben mit den Einheimischen dieser Regionen hatte ich Gelegenheit zum besseren Kennenlernen etlicher technisch primitiver Gesellschaften, von Jäger- und Sammlervölkern bis hin zu einfachen bäuerlichen oder vom Fischfang lebenden Stammesgemeinschaften, die bis in die jüngste Vergangenheit noch Steinwerkzeuge verwendeten. Was die meisten gebildeten Menschen als exotische Lebensweise aus vorgeschichtlicher Zeit betrachten würden, ist deshalb für mich ein besonders lebendiger Teil meiner Erinnerung. Neuguinea, auf das zwar nur ein kleiner Teil der Landmasse der Erde entfällt, besitzt einen überproportional großen Anteil an der kulturellen Vielfalt unseres Planeten. Von den weltweit rund 6000 Sprachen der Gegenwart werden 1000 nur dort gesprochen. Während meiner Vogelforschungen auf Neuguinea entbrannte mein linguistisches Interesse neu, da es zu meinen Aufgaben gehörte, von den Einheimischen die örtlichen Vogelnamen in nahezu hundert neuguineischen Sprachen zu erfahren.
Diese verschiedenen Interessen bildeten die Grundlage für mein letztes Buch mit dem Titel Der dritte Schimpanse , in dem ich die Evolution des Menschen in allgemeinverständlicher Form darzustellen versuchte. Kapitel 14 handelte unter der Überschrift »Zufällige Eroberer« von dem Ergebnis des Zusammentreffens von Europäern und amerikanischen Indianern. Nach Erscheinen des Buchs wurde mir bewußt, daß andere neuzeitliche, aber auch prähistorische Begegnungen zwischen Völkern ähnliche Fragen aufwarfen. Ich erkannte, daß die Frage, mit der ich in Kapitel 14 gerungen hatte, im Grunde die gleiche war wie jene, mit der mich Yali 1972 konfrontiert hatte, nur eben bezogen auf einen anderen Teil der Welt. Und so will ich nun, unterstützt von zahlreichen Freunden und Kollegen, endlich den Versuch wagen, Yalis Neugier zu befriedigen – und meine eigene.
Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Teil I, »Von Eden nach Cajamarca«, umfaßt zwei Kapitel. Das erste (Kapitel 1) nimmt den Leser mit auf eine Blitzreise durch die menschliche Evolution und Geschichte, angefangen bei unserer Abzweigung vom gemeinsamen Stammbaum mit den Affen vor rund sieben Millionen Jahren bis zum Ende der letzten Eiszeit vor rund 13 000 Jahren. Wir verfolgen die Ausbreitung unserer Urahnen von Afrika zu den anderen Kontinenten und gewinnen so eine Vorstellung vom Zustand der Welt, bevor jene Entwicklungen einsetzten, die oft unter dem Begriff »Aufstieg der Zivilisation« zusammengefaßt werden. Wie ich zeigen werde, hatten die Bewohner einiger Kontinente dabei einen zeitlichen Vorsprung vor denen anderer.
Das zweite Kapitel führt in das Thema der Kollisionen von Völkern verschiedener Kontinente
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