Arm und Reich
Bereich des Fruchtbaren Halbmonds und später auch in einigen anderen Regionen. Eine Voraussetzung für das Leben in festen Siedlungen besteht darin, daß entweder Landwirtschaft betrieben wird oder die jeweilige Region von der Natur besonders reichhaltig ausgestattet ist, so daß ihre Gaben in geringem Umkreis gejagt und gesammelt werden können. Aus diesem Grund entstanden in jener Zeit, als Klimaveränderungen in Kombination mit verbesserten Techniken das Ernten großer Mengen Wildgetreide ermöglichten, an vielen Orten Vorderasiens Siedlungen und somit, nach der hier verwendeten Definition, auch Stämme.
Stämme unterscheiden sich von Gruppen nicht nur durch die feste Siedlungsweise und die größere Zahl von Menschen, die ihnen angehören, sondern auch darin, daß sie sich aus mehr als einer anerkannten Sippengemeinschaft(Clan) zusammensetzen, die untereinander Heiratspartner austauschen. Das Land ist im Besitz einzelner Clans, nicht des gesamten Stammes. Zahlenmäßig ist ein Stamm dabei immer noch so überschaubar, daß jeder jeden mit Namen kennt und ihn verwandtschaftlich einzuordnen weiß.
Auch für andere Gruppentypen ist eine Größenordnung von »ein paar Hundert« offenbar die Obergrenze, bis zu der noch jeder jeden kennen kann. In unserer heutigen Gesellschaft kennt beispielsweise ein Schulleiter womöglich noch die meisten Schüler mit Namen, wenn nicht mehr als ein paar hundert Kinder auf seine Schule gehen, nicht aber, wenn es einige tausend sind. Ein Grund für den Übergang vom Stamm zum Häuptlingsreich in Gesellschaften mit mehr als einigen hundert Mitgliedern liegt in dem schwierigen Problem der Regelung von Konflikten zwischen Fremden, das sich bei zunehmender Größe immer dringlicher stellt. In Stämmen werden potentielle Probleme dieser Art dadurch unterdrückt, daß fast jeder mit jedem verwandt ist – blutsverwandt, durch Heirat oder beides. Die Verwandtschaft sbeziehungen zwischen allen Stammesangehörigen machen Polizei, Justiz und andere Institutionen, die in größeren Gesellschaften zur Konfliktregelung dienen, überflüssig, da zwei Streithähne stets zahlreiche gemeinsame Verwandte haben, die sie von einer Gewaltanwendung abhalten, indem sie Druck auf sie ausüben. In der traditionellen neuguineischen Gesellschaft kommt es vor, daß einander fremde Einheimische, die außerhalb ihrer jeweiligen Dörfer durch Zufall aufeinandertreffen, zunächst lang und breit diskutieren, mit wem jeder von ihnen verwandt ist, um so eine Art von Beziehung aufzubauen und einen Grund zu haben, sich nicht gegenseitig nach dem Leben zu trachten.
Bei allen Unterschieden zwischen Gruppen und Stämmen bleiben jedoch zahlreiche Gemeinsamkeiten. Auch Stämmen ist eine informelle, »egalitäre« Herrschaftsform eigen. Grundsätzlich kann jeder Stammesangehörige an Informationen und Entscheidungen teilhaben. Ich hatte im neuguineischen Hochland Gelegenheit zur Beobachtung von Dorfversammlungen, bei denen alle Erwachsenen anwesend waren und, auf dem Boden sitzend, den Reden verschiedener Dorfbewohner lauschten, wobei ich nie den Eindruck hatte, daß irgend jemand den »Vorsitz« führte. In vielen Dörfern im Hochland gibt es so etwas wie einen »Bigman«, einen Anführer, der unter den Bewohnern das größte Ansehen genießt. Diese Stellung ist aber kein offizielles Amt und birgt nur begrenzte Machtbefugnisse. Der Anführer besitzt keine unabhängige Entscheidungsgewalt, ist kein Träger diplomatischer Geheimnisse und kann lediglich versuchen, den gemeinsamen Entscheidungsprozeß nach seinen Vorstellungen zu beeinflussen. Sein Status ist auch nicht vererbbar, sondern beruht ausschließlich auf persönlichen Eigenschaften.
Gemeinsam ist Stämmen und Gruppen auch ein »egalitäres« Gesellschaftssystem ohne soziale Klassen oder auf Abstammung basierenden Privilegien. Abgesehen von der Nichterblichkeit des sozialen Rangs kann auch kein Mitglied eines traditionellen Stammes oder einer Gruppe durch eigene Anstrengungen übermäßig reich werden, da jedes Individuum bei vielen anderen in der Schuld steht oder Verpflichtungen ihnen gegenüber hat. Ein Fremder kann deshalb vom bloßen Ansehen nicht wissen, welcher Dorfbewohner der Anführer ist: Seine Hütte sieht genauso aus wie die der anderen, er trägt die gleiche Kleidung und den gleichen Schmuck oder ist sogar nackt wie sie.
Wie in Jäger-Sammler-Gruppen gibt es auch in
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