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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Bereich des Fruchtbaren Halbmonds und später auch in einigen anderen Regio­nen. Eine Voraussetzung für das Leben in festen Sied­lungen besteht darin, daß entweder Landwirtschaft be­trieben wird oder die jeweilige Region von der Natur besonders reichhaltig ausgestattet ist, so daß ihre Ga­ben in geringem Umkreis gejagt und gesammelt werden können. Aus diesem Grund entstanden in jener Zeit, als Klimaveränderungen in Kombination mit verbesserten Techniken das Ernten großer Mengen Wildgetreide er­möglichten, an vielen Orten Vorderasiens Siedlungen und somit, nach der hier verwendeten Definition, auch Stämme.
    Stämme unterscheiden sich von Gruppen nicht nur durch die feste Siedlungsweise und die größere Zahl von Menschen, die ihnen angehören, sondern auch darin, daß sie sich aus mehr als einer anerkannten Sippenge­meinschaft(Clan) zusammensetzen, die untereinander Heiratspartner austauschen. Das Land ist im Besitz ein­zelner Clans, nicht des gesamten Stammes. Zahlenmä­ßig ist ein Stamm dabei immer noch so überschaubar, daß jeder jeden mit Namen kennt und ihn verwandt­schaftlich einzuordnen weiß.
    Auch für andere Gruppentypen ist eine Größenordnung von »ein paar Hundert« offenbar die Obergren­ze, bis zu der noch jeder jeden kennen kann. In unse­rer heutigen Gesellschaft kennt beispielsweise ein Schul­leiter womöglich noch die meisten Schüler mit Namen, wenn nicht mehr als ein paar hundert Kinder auf seine Schule gehen, nicht aber, wenn es einige tausend sind. Ein Grund für den Übergang vom Stamm zum Häupt­lingsreich in Gesellschaften mit mehr als einigen hundert Mitgliedern liegt in dem schwierigen Problem der Rege­lung von Konflikten zwischen Fremden, das sich bei zu­nehmender Größe immer dringlicher stellt. In Stämmen werden potentielle Probleme dieser Art dadurch unter­drückt, daß fast jeder mit jedem verwandt ist – blutsver­wandt, durch Heirat oder beides. Die Verwandtschaft s­beziehungen zwischen allen Stammesangehörigen ma­chen Polizei, Justiz und andere Institutionen, die in größeren Gesellschaften zur Konfliktregelung dienen, überflüssig, da zwei Streithähne stets zahlreiche gemein­same Verwandte haben, die sie von einer Gewaltanwen­dung abhalten, indem sie Druck auf sie ausüben. In der traditionellen neuguineischen Gesellschaft kommt es vor, daß einander fremde Einheimische, die außerhalb ihrer jeweiligen Dörfer durch Zufall aufeinandertreffen, zu­nächst lang und breit diskutieren, mit wem jeder von ihnen verwandt ist, um so eine Art von Beziehung auf­zubauen und einen Grund zu haben, sich nicht gegen­seitig nach dem Leben zu trachten.
    Bei allen Unterschieden zwischen Gruppen und Stäm­men bleiben jedoch zahlreiche Gemeinsamkeiten. Auch Stämmen ist eine informelle, »egalitäre« Herrschafts­form eigen. Grundsätzlich kann jeder Stammesangehöri­ge an Informationen und Entscheidungen teilhaben. Ich hatte im neuguineischen Hochland Gelegenheit zur Be­obachtung von Dorfversammlungen, bei denen alle Er­wachsenen anwesend waren und, auf dem Boden sitzend, den Reden verschiedener Dorfbewohner lauschten, wo­bei ich nie den Eindruck hatte, daß irgend jemand den »Vorsitz« führte. In vielen Dörfern im Hochland gibt es so etwas wie einen »Big­man«, einen Anführer, der unter den Bewohnern das größte Ansehen genießt. Diese Stel­lung ist aber kein offizielles Amt und birgt nur begrenz­te Machtbefugnisse. Der Anführer besitzt keine unab­hängige Entscheidungsgewalt, ist kein Träger diploma­tischer Geheimnisse und kann lediglich versuchen, den gemeinsamen Entscheidungsprozeß nach seinen Vorstel­lungen zu beeinflussen. Sein Status ist auch nicht ver­erbbar, sondern beruht ausschließlich auf persönlichen Eigenschaften.
    Gemeinsam ist Stämmen und Gruppen auch ein »ega­litäres« Gesellschaftssystem ohne soziale Klassen oder auf Abstammung basierenden Privilegien. Abgesehen von der Nichterblichkeit des sozialen Rangs kann auch kein Mit­glied eines traditionellen Stammes oder einer Gruppe durch eigene Anstrengungen übermäßig reich werden, da jedes Individuum bei vielen anderen in der Schuld steht oder Verpflichtungen ihnen gegenüber hat. Ein Fremder kann deshalb vom bloßen Ansehen nicht wissen, welcher Dorfbewohner der Anführer ist: Seine Hütte sieht genau­so aus wie die der anderen, er trägt die gleiche Kleidung und den gleichen Schmuck oder ist sogar nackt wie sie.
    Wie in Jäger-Sammler-Gruppen gibt es auch in

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