Arm und Reich
Qualifikationen wie Charakterstärke, physische Kraft, Intelligenz und Kampfgeschick erworben wird.
Meine eigenen Erfahrungen mit Gruppen von Jägern und Sammlern stammen aus dem sumpfigen Seentiefland von Neuguinea, der Heimat der Fayu. Dort begegnen mir noch heute Familienverbände, die aus einer Handvoll Erwachsener samt ihren Kindern und Alten bestehen und die in einfachen Behelfsunterkünften an Wasserläufen hausen und sich per Kanu und zu Fuß fortbewegen. Warum leben die Bewohner des neuguineischen Seentieflands weiter in nomadischen Gruppen, während die meisten anderen Völker Neuguineas und fast alle übrigen Völker der Welt heutzutage in seßhaften größeren Gruppen leben? Der Grund liegt darin, daß es der Region an bedeutenden örtlichen Konzentrationen von Ressourcen mangelt, die einer größeren Bevölkerung als Existenzgrundlage dienen könnten; zudem gab es (bis zur Ankunft von Missionaren, die Kulturpflanzen mitbrachten) in der Region keine heimischen Pflanzen für eine ertragreiche Landwirtschaft. Das Grundnahrungsmittel der Fayu liefert die Sagopalme, aus deren reifem Stamm ein Stärkemehl gewonnen wird. Daß die Fayu als Nomaden leben, folgt schon daraus, daß sie weiterziehen müssen, wenn in einem Gebiet alle Sagopalmen gefällt sind. Die Größe ihrer Gruppen wird begrenzt durch Krankheiten (vor allem Malaria), den im Sumpfland herrschenden Mangel an bestimmten Rohmaterialien (selbst Steine für Werkzeuge müssen durch Tauschhandel beschafft werden) und die begrenzte Nahrungsmenge, die die Sümpfe hergeben. Eine ähnlich beschränkte Ressourcenausstattung (unter Berücksichtigung der vorhandenen Techniken) kennzeichnete auch die anderen Regionen der Welt, die bis vor kurzem den Lebensraum von Nomadengruppen bildeten.
Unsere engsten Verwandten im Tierreich, die Gorillas, Schimpansen und Bonobo, leben ebenfalls in Gruppen. Vermutlich galt dies auch für den Menschen, bis verbesserte Techniken zur Nahrungsgewinnung einigen Jägern und Sammlern in von der Natur besonders reich gesegneten Gebieten die Möglichkeit gaben, seßhaft zu werden und permanente Behausungen zu errichten. Die Gruppe ist somit das politische, wirtschaftliche und soziale Vermächtnis unserer Jahrmillionen währenden Evolutionsgeschichte. Alles, was nach ihr kam, spielte sich in den letzten Jahrzehntausenden ab.
Das erste Stadium jenseits der Gruppe ist der Stamm, der sich dadurch unterscheidet, daß er größer ist (in der Regel hat er einige hundert statt einige Dutzend Angehörige) und für gewöhnlich feste Siedlungen umfaßt. Allerdings gibt es auch Viehzüchterstämme, die mit ihren Herden in bestimmten Jahreszeiten an andere Orte ziehen.
Ein Beispiel für den Stamm als Organisationsform menschlicher Gesellschaften liefern die neuguineischen Hochlandbewohner, bei denen vor der Errichtung der Kolonialherrschaft das Dorf oder eine Gruppe benachbarter Dörfer die wichtigste politische Einheit bildete. Diese politische Definition des Begriffs »Stamm« ist damit in vielen Fällen enger gefaßt als das, was Linguisten und Kulturanthropologen im allgemeinen darunter verstehen – nämlich einen Kreis von Personen mit gleicher Sprache und Kultur. Im Jahr 1964 begann ich mit Feldstudien bei den Foré, einem Volk im neuguineischen Hochland. Nach linguistischen und kulturellen Maßstäben gab es zum damaligen Zeitpunkt 12 000 Foré, die zwei Dialekte sprachen (die für die Sprecher des jeweils anderen Dialekts zu verstehen waren) und in 65 Dörfern mit jeweils mehreren hundert Bewohnern lebten. Die Dörfer der Foré-Sprecher bildeten jedoch keineswegs eine politische Einheit. Alle benachbarten Dörfer waren ständig in Kriege untereinander verwickelt und schmiedeten wechselnde Allianzen, wobei es überhaupt keine Rolle spielte, ob es sich um Sprecher der Foré- oder einer anderen Sprache handelte.
Stämme, die erst vor kurzem ihre Unabhängigkeit verloren haben und seither der Hoheit von Nationalstaaten unterstehen, bilden noch heute einen Großteil der Bevölkerung Neuguineas, Melanesiens und des Amazonasgebiets. Archäologische Funde früher Siedlungen, die schon beachtlich groß waren, aber noch nicht die Merkmale von Häuptlingsreichen aufwiesen, die ich weiter unten erläutern werde, lassen auf die Existenz stammesähnlicher Organisationsformen schließen. Nach diesen Funden zu urteilen, begann die Entstehung von Stämmen vor etwa 13 000 Jahren im
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