Arm und Reich
Fehlen von Polizisten, Städten, Geld, Unterschieden zwischen Arm und Reich sowie einer Vielzahl weiterer politischer, wirtschaftlicher und sozialer Institutionen. Entstanden all diese Institutionen zusammen, oder tauchten einige früher auf als andere? Antwort auf diese Frage erhalten wir durch einen Vergleich heutiger Gesellschaften auf verschiedenen Organisationsstufen, durch die Analyse archäologischer Indizien oder schriftlicher Berichte über Gesellschaften der Vergangenheit und durch Beobachtung des Wandels gesellschaftlicher Institutionen im Zeitablauf.
Von Kulturanthropologen werden menschliche Gesellschaften in dem Bemühen, Ordnung in die Vielfalt zu bringen, oft in bis zu sechs verschiedene Kategorien eingeteilt. Von vornherein ist aber jeder Versuch, einen evolutionären Entwicklungsprozeß in Stadien zu unterteilen – ob in der Musik, im menschlichen Lebenszyklus oder bei Gesellschaften – aus zwei Gründen zur Unvollkommenheit verurteilt. Erstens sind die Abgrenzungen, die gezogen werden, zwangsläufig unscharf, da sich jedes Stadium aus einem vorhergehenden entwickelt. (Ist beispielsweise ein 19jähriger noch ein Jugendlicher oder schon ein junger Erwachsener?) Zweitens mangelt es Entwicklungsphasen an Homogenität, so daß ins gleiche Stadium eingeordnete Betrachtungs gegenstände in Wirklichkeit sehr heterogen sein können. (Brahms und Liszt würden sich im Grab umdrehen, erführen sie, daß sie heute beide als Komponisten der Romantik bezeichnet werden.) Dennoch können so definierte Stadien ein nützliches Instrument zur Erörterung der Vielfalt von Musikrichtungen oder menschlichen Gesellschaften darstellen, sofern man sich die genannten Vorbehalte vergegenwärtigt. In diesem Sinne wollen wir im folgenden ein einfaches Klassifikationsschema aus nur vier Kategorien – Gruppe, Stamm, Häuptlingsreich, Staat (siehe Tabelle 13.1) – verwenden.
Ein waagerechter Pfeil signalisiert, daß in diesem Punkt Unterschiede zwischen Gesellschaften des jeweiligen Typs mit geringerer und höherer Komplexität bestehen .
Tabelle 13.1 Gesellschaftstypen
Gruppen bestehen als kleinste Gesellschaftsform typischerweise aus fünf bis 80 Personen, von denen die mesten oder alle durch Geburt oder Heirat eng miteinander verwandt sind. In der Regel handelt es sich bei einem solchen Verband um eine oder mehrere verwandte Großfamilien. Heute trifft man autonom lebende Gruppen von Jägern und Sammlern fast nur noch in den entlegensten Winkeln Neuguineas und des Amazonasgebiets. Vor nicht allzu langer Zeit gab es jedoch zahlreiche andere, die erst in jüngster Vergangenheit unter staatliche Herrschaft gerieten, assimiliert oder ausgerottet wurden. Hierzu zählen viele oder die meisten der afrikanischen Pygmäen, die südafrikanischen San (»Buschmänner«), die australischen Aborigines, die Eskimos (Inuit) und die indianischen Bewohner einiger mit Rohstoffen kärglich ausgestatteter Regionen Amerikas (z. B. Feuerland im äußersten Süden und die borealen Wälder im hohen Norden). Bei all diesen neuzeitlichen Kleinverbänden handelte beziehungsweise handelt es sich nicht um seßhafte Ackerbauern, sondern um nomadische Jäger und Sammler. Bis vor 40 000 Jahren lebten vermutlich alle Menschen in solchen Gruppen, und für die meisten galt dies sogar noch vor 11 000 Jahren.
In Gruppen fehlen zahlreiche Institutionen, die uns heute als selbstverständlich erscheinen. Sie haben keinen dauerhaften Aufenthaltsort. Ihr Land wird von allen gemeinsam genutzt und ist nicht zwischen einzelnen Untergruppen oder Individuen aufgeteilt. Es fehlt die ökonomische Differenzierung, außer nach Alter und Geschlecht: Alle gesunden Personen beteiligen sich an der Nahrungssuche. Es gibt keine formellen Institutionen wie Polizei und Justiz, die Konflikte innerhalb von Gruppen und zwischen Gruppen regeln könnten. Oft werden solche Kleinverbände als »egalitär« beschrieben: Sie kennen keine soziale Schichtung in höhere und niedrigere Klassen, kein formelles oder durch Vererbung geregeltes Führungswesen und auch keine formellen Informations- und Entscheidungsmonopole. Die Bezeichnung »egalitär« darf jedoch nicht so gedeutet werden, daß etwa alle Angehörigen einer Gruppe das gleiche soziale Ansehen genössen und in gleicher Weise an Entscheidungen beteiligt wären. »Egalitär« heißt lediglich, daß die »Führung« einer Gruppe informell ist und durch
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