Arm und Reich
Stämmen weder Bürokratie noch Polizei oder Steuern. Die Stammesökonomie basiert auf dem Güteraustausch zwischen Individuen oder Familien und nicht auf der Umverteilung von Tributen, die an eine Zentralgewalt entrichtet werden. Die berufliche Spezialisierung ist noch wenig ausgeprägt: Niemand widmet sich ausschließlich einem Handwerk, und jeder gesunde Erwachsene (auch der Anführer) beteiligt sich an der Nahrungsbeschaffung durch Landwirtschaft, Jagen und Sammeln. Als ich einmal auf einer der Salomoninseln bei einer Wanderung an einer Plantage vorbeikam, erblickte ich in einiger Entfernung einen Mann, der gerade den Boden bearbeitete und mir zuwinkte. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, daß es sich um meinen Freund Faleteau handelte, den berühmtesten Holzschnitzer der Salomoninseln. Er war ein Künstler von großer Originalität, aber das befreite ihn nicht von der Notwendigkeit, seine eigenen Süßkartoffeln anzubauen. Da Stämme also keine Spezialisten für verschiedene Aufgaben kennen, ist ihnen auch die Sklaverei fremd, da es sozusagen kein »Berufsbild« für niedere Tätigkeiten gibt, die Sklaven verrichten könnten.
Wie die Komponisten der Klassik von C. Ph. E. Bach bis Schubert reichen und damit das gesamte Spektrum von der Barockmusik bis zur Romantik umfassen, gehen auch Stämme auf der einen Seite in Gruppen und auf der anderen in Häuptlingsreiche über. So weist die Funktion des Anführers beispielsweise bei der Aufteilung des Fleischs von Schweinen, die für wichtige Feste geschlachtet werden, schon deutlich in die Richtung des Häuptlings als Einzieher und Umverteiler von Nahrung und Gütern. Ein weiteres Merkmal, das normalerweise Stämme von Häuptlingsreichen unterscheidet, ist das Vorhandensein beziehungsweise Fehlen von Gemeinschaftsbauten. Indessen findet man in Neuguinea in größeren Dörfern häufig ein Kulthaus ( haus tamburan , wie man am Sepik-Fluß dazu sagt), das durchaus als Vorbote religiöser und weltlicher Bauten in Häuptlingsreichen angesehen werden kann.
Während eine kleine Zahl von Jäger-Sammler-Gruppen und -Stämmen in abgelegenen Regionen auf wirtschaftlich unbrauchbarem Land bis in die Gegenwart außerhalb staatlichen Zugriffs überlebt hat, verschwanden die letzten wirklich unabhängigen Häuptlingsreiche schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, da sie meist in Gebieten angesiedelt waren, die auch von Staaten begehrt wurden. Im Jahr 1492 waren dagegen Häuptlingsreiche im Osten der heutigen USA, in fruchtbaren, noch nicht in einheimische Staaten eingegliederten Regionen Süd- und Mittelamerikas und Afrikas südlich der Sahara sowie überall in Polynesien weit verbreitet. Archäologische Funde, auf die ich noch näher eingehen werde, legen den Schluß nahe, daß die ersten Häuptlingsreiche um 5500 v. Chr. im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds und um 1000 v. Chr. in Mesoamerika und den Anden entstanden. Betrachten wir zunächst einmal die typischen Merkmale von Häuptlingsreichen, die sich deutlich von modernen europäischen und amerikanischen Staaten, aber auch von Gruppen und einfachen Stammesgesellschaften unterscheiden. Von der Bevölkerungszahl her waren Häuptlingsreiche mit einigen tausend bis zu mehreren zehntausend Bewohnern erheblich größer als Stämme. Darin lag ein ernstes Konfliktpotential, da der einzelne in einem Häuptlingsreich mit den meisten anderen weder verwandt oder verschwägert war noch ihre Namen kannte. Mit dem Aufkommen von Häuptlingsreichen vor rund 7500 Jahren wurden Menschen erstmals in der Geschichte vor die Notwendigkeit gestellt, regelmäßig mit Fremden zu verkehren, ohne ihnen gleich nach dem Leben zu trachten.
Die Lösung des Problems lag zum Teil in der Übertragung des Gewaltmonopols auf eine zentrale Instanz in der Person des Häuptlings. Im Unterschied zum Anführer eines Stammes war ein Häuptling Inhaber eines offiziellen Amtes, das ihm durch Vererbung zustand. Im Gegensatz zur dezentralistischen Anarchie einer Dorfversammlung verkörperte er eine dauerhafte zentralistische Instanz, traf alle größeren Entscheidungen und besaß ein Monopol für wichtige Informationen (zum Beispiel, welche Drohungen ein Nachbarhäuptling gerade ausgestoßen hatte oder wie die nächste Ernte laut Verheißung der Götter ausfallen würde). Anders als Anführer waren Häuptlinge schon von weitem an der äußeren Erscheinung zu erkennen – so auf der
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