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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Stäm­men weder Bürokratie noch Polizei oder Steuern. Die Stammesökonomie basiert auf dem Güteraustausch zwi­schen Individuen oder Familien und nicht auf der Um­verteilung von Tributen, die an eine Zentralgewalt ent­richtet werden. Die berufliche Spezialisierung ist noch wenig ausgeprägt: Niemand widmet sich ausschließlich einem Handwerk, und jeder gesunde Erwachsene (auch der Anführer) beteiligt sich an der Nahrungsbeschaf­fung durch Landwirtschaft, Jagen und Sammeln. Als ich einmal auf einer der Salomoninseln bei einer Wande­rung an einer Plantage vorbeikam, erblickte ich in eini­ger Entfernung einen Mann, der gerade den Boden bear­beitete und mir zuwinkte. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, daß es sich um meinen Freund Faleteau han­delte, den berühmtesten Holzschnitzer der Salomonin­seln. Er war ein Künstler von großer Originalität, aber das befreite ihn nicht von der Notwendigkeit, seine ei­genen Süßkartoffeln anzubauen. Da Stämme also kei­ne Spezialisten für verschiedene Aufgaben kennen, ist ihnen auch die Sklaverei fremd, da es sozusagen kein »Berufsbild« für niedere Tätigkeiten gibt, die Sklaven verrichten könnten.
    Wie die Komponisten der Klassik von C. Ph. E. Bach bis Schubert reichen und damit das gesamte Spektrum von der Barockmusik bis zur Romantik umfassen, ge­hen auch Stämme auf der einen Seite in Gruppen und auf der anderen in Häuptlingsreiche über. So weist die Funktion des Anführers beispielsweise bei der Auftei­lung des Fleischs von Schweinen, die für wichtige Fe­ste geschlachtet werden, schon deutlich in die Richtung des Häuptlings als Einzieher und Umverteiler von Nah­rung und Gütern. Ein weiteres Merkmal, das norma­lerweise Stämme von Häuptlingsreichen unterscheidet, ist das Vorhandensein beziehungsweise Fehlen von Ge­meinschaftsbauten. Indessen findet man in Neuguinea in größeren Dörfern häufig ein Kulthaus ( haus tambu­ran , wie man am Sepik-Fluß dazu sagt), das durchaus als Vorbote religiöser und weltlicher Bauten in Häupt­lingsreichen angesehen werden kann.
    Während eine kleine Zahl von Jäger-Sammler-Grup­pen und -Stämmen in abgelegenen Regionen auf wirt­schaftlich unbrauchbarem Land bis in die Gegenwart außerhalb staatlichen Zugriffs überlebt hat, verschwan­den die letzten wirklich unabhängigen Häuptlingsrei­che schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, da sie meist in Gebieten angesiedelt waren, die auch von Staaten be­gehrt wurden. Im Jahr 1492 waren dagegen Häuptlings­reiche im Osten der heutigen USA, in fruchtbaren, noch nicht in einheimische Staaten eingegliederten Regionen Süd- und Mittelamerikas und Afrikas südlich der Saha­ra sowie überall in Polynesien weit verbreitet. Archäo­logische Funde, auf die ich noch näher eingehen werde, legen den Schluß nahe, daß die ersten Häuptlingsrei­che um 5500 v. Chr. im Bereich des Fruchtbaren Halb­monds und um 1000 v. Chr. in Mesoamerika und den Anden entstanden. Betrachten wir zunächst einmal die typischen Merkmale von Häuptlingsreichen, die sich deutlich von modernen europäischen und amerikani­schen Staaten, aber auch von Gruppen und einfachen Stammesgesellschaften unterscheiden. Von der Bevöl­kerungszahl her waren Häuptlingsreiche mit einigen tausend bis zu mehreren zehntausend Bewohnern er­heblich größer als Stämme. Darin lag ein ernstes Kon­fliktpotential, da der einzelne in einem Häuptlingsreich mit den meisten anderen weder verwandt oder ver­schwägert war noch ihre Namen kannte. Mit dem Auf­kommen von Häuptlingsreichen vor rund 7500 Jahren wurden Menschen erstmals in der Geschichte vor die Notwendigkeit gestellt, regelmäßig mit Fremden zu ver­kehren, ohne ihnen gleich nach dem Leben zu trachten.
    Die Lösung des Problems lag zum Teil in der Über­tragung des Gewaltmonopols auf eine zentrale Instanz in der Person des Häuptlings. Im Unterschied zum An­führer eines Stammes war ein Häuptling Inhaber eines offiziellen Amtes, das ihm durch Vererbung zustand. Im Gegensatz zur dezentralistischen Anarchie einer Dorf­versammlung verkörperte er eine dauerhafte zentralisti­sche Instanz, traf alle größeren Entscheidungen und be­saß ein Monopol für wichtige Informationen (zum Bei­spiel, welche Drohungen ein Nachbarhäuptling gerade ausgestoßen hatte oder wie die nächste Ernte laut Verhei­ßung der Götter ausfallen würde). Anders als Anführer waren Häuptlinge schon von weitem an der äußeren Er­scheinung zu erkennen – so auf der

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