Arm und Reich
Pazifikinsel Rennell durch einen großen, über der Schulter getragenen Fächer. Ein gemeiner Mann mußte, wenn er einem Häuptling gegenübertrat, diesem auf rituelle Weise Respekt bezeugen, etwa, indem er sich vor ihm auf den Boden warf (Hawaii). Die Anweisungen des Häuptlings wurden meist durch eine oder zwei bürokratische Ebenen an das Volk weitergegeben, wobei die Bürokraten oft Häuptlinge niedrigeren Ranges waren. Im Unterschied zu modernen Verwaltungsbeamten hatten Bürokraten in Häuptlingsreichen jedoch keine hochspezialisierten Funktionen. So trieben in der polynesischen Gesellschaft Hawaiis die gleichen Bürokraten (»Konohiki« genannt) Tribut ein, führten die Aufsicht über die Bewässerung und organisierten Frondienste für den Häuptling; in staatlichen Verwaltungen ist dagegen jeder Bereich mit eigenen Spezialisten gesegnet (etwa Steuerbeamte, Bezirksbeauftragte für Wasserwirtschaft, Einberufungskommission, um beim Beispiel von Hawaii zu bleiben).
Die größere, auf ein kleines Gebiet konzentrierte Bevölkerung eines Häuptlingsreichs erforderte große Nahrungsmengen, die in der Regel durch Landwirtschaft produziert wurden, in einigen Fällen jedoch auch durch Jagen und Sammeln, wenn es die Natur besonders gut mit einer Region meinte. So lebten die Indianer an der nördlichen Pazifikküste (Kwakiutl, Nootka, Tlingit und andere Stämme) in von Häuptlingen regierten Dörfern, in denen weder Ackerbau getrieben noch Haustiere gehalten wurden, da Flüsse und Meer reiche Lachs- und Heilbuttfänge bescherten. Die von »gemeinen« Stammesangehörigen erwirtschafteten Nahrungsüberschüsse gingen an die Häuptlinge und ihre Familien, an Bürokraten und spezialisierte Handwerker, die beispielsweise Kanus bauten, Spucknäpfe herstellten oder sich als Vogelfänger oder Tätowierer betätigten.
Luxusgüter, zu denen derlei Werke, aber auch im Fernhandel eingetauschte seltene Dinge gehörten, waren Häuptlingen vorbehalten. In Hawaii besaßen die Herrscher Federumhänge, die manchmal aus Zehntausenden einzelner Federn bestanden, so daß ihre Anfertigung viele Generationen dauerte (die Umhangmacher stammten natürlich aus den Reihen der Normalsterblichen). Dank der Konzentration von Luxusgütern im Besitz von Häuptlingen ist es Archäologen oft möglich, Häuptlingsreiche daran zu erkennen, daß einige Gräber (die der Häuptlinge) viel kostbarere Gegenstände enthalten als andere (die des gemeinen Volks), worin ein deutlicher Unterschied zum Grabstätten-Egalitarismus der früheren Menschheitsgeschichte liegt. Überdies lassen sich einige frühgeschichtliche Häuptlingsreiche durch die Überreste größerer öffentlicher Bauten (beispielsweise von Tempeln) sowie durch eine Hierarchie der Siedlungen von Stammessiedlungen unterscheiden, wobei ein Ort (der Wohnsitz des obersten Häuptlings) größer ist als alle anderen und auch mehr administrative Gebäude und Artefakte aufweist.
Wie Stämme bestanden auch Häuptlingsreiche aus einer Vielzahl von Abstammungslinien, deren Angehörige am gleichen Ort zusammenlebten. Während die Abstammungslinien bei Stämmen gleichberechtigte Sippen (Clans) bildeten, besaßen in Häuptlingsreichen alle Angehörigen der Abstammungslinie des Herrschers Privilegien, die weitervererbt wurden. Praktisch war die Gesellschaft in erbliche Klassen von Adligen und Nichtadligen gespalten, wobei etwa der hawaiianische Adel wiederum in acht hierarchische Abstammungslinien untergliedert war, deren Angehörige vornehmlich innerhalb der eigenen Linie heirateten. Da Häuptlinge Dienstboten für niedere Arbeiten und Handwerker benötigten, unterschieden sich Häuptlingsreiche von Stämmen auch darin, daß es zahlreiche Tätigkeiten gab, die von Sklaven verrichtet werden konnten. Diese wurden typischerweise auf eigens zu diesem Zweck veranstalteten Sklavenjagden gefangen.
In wirtschaftlicher Hinsicht war das auffälligste Merkmal von Häuptlingsreichen die Abkehr von ausschließlich reziproken Aus tauschbeziehungen, wie sie für Gruppen und Stämme typisch sind. Dabei erhält A ein Geschenk von B, wofür B von A ein Geschenk von vergleichbarem Wert irgendwann in der Zukunft erwartet. Bürger moderner Staaten praktizieren ein derartiges Verhalten zwar noch an Geburtstagen und bei manch anderer Gelegenheit, doch das Gros des Güteraustauschs vollzieht sich heute durch Kauf und Verkauf gegen klingende Münze nach dem
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