Arm und Reich
zwischen nicht miteinander verwandten Individuen. Als diese Funktionen hinzukamen und institutionalisiert wurden, verwandelten sie sich in das, was wir Religion nennen. Die hawaiianischen Herrscher, die sich als Götter oder Nachfahren von Göttern ausgaben oder zumindest von sich behaupteten, einen direkten Draht zu den Göttern zu haben, waren typische Beispiele. So rechtfertigten viele Häuptlinge ihre Stellung unter anderem damit, daß sie sich für das Volk bei den Göttern verwendeten und die rituellen Formeln rezitierten, die aufgesagt werden mußten, um für Regen, eine gute Ernte und reiche Fischfänge zu sorgen.
Häuptlingsreiche verfügen als Stütze der Häuptlingsautorität typischerweise über eine Ideologie, den Vorläufer einer institutionalisierten Religion. Entweder vereint der Häuptling dabei in seiner Person die Ämter des politischen Führers und Priesters, oder er fungiert als Schirmherr einer eigenen Gruppe von Kleptokraten (der Priester), deren Funktion darin besteht, die Stellung des Häuptlings ideologisch zu rechtfertigen. Hierin liegt auch der Grund, warum in Häuptlingsreichen ein so großer Teil des erhobenen Tributs in Tempel und andere öffentliche Bauten investiert wird, die als Stätten zur Ausübung der offiziellen Religion und als sichtbare Zeichen der Häuptlingsmacht dienen.
Neben der Rechtfertigung der materiellen Privilegierung der Kleptokraten hat die institutionalisierte Religion für zentralistische Gesellschaften zwei weitere wichtige Vorteile. Erstens schafft eine Ideologie oder Religion ein nicht auf Verwandtschaft basierendes Band der Gemeinsamkeit und trägt damit zur Lösung des Problems bei, nicht miteinander verwandten Individuen ein Zusammenleben ohne Mord und Totschlag zu ermöglichen. Zweitens gibt sie Menschen ein Motiv, das eigene Leben für andere zu opfern. Auf diese Weise gewinnt eine Gesellschaft auf Kosten einer kleinen Zahl von Menschen, die als Soldaten auf dem Schlachtfeld sterben, insgesamt an Schlagkraft bei der Eroberung anderer Gesellschaften beziehungsweise bei der Abwehr von Feinden.
Am vertrautesten sind uns heute die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Institutionen von Staaten, die mittlerweile die gesamte Landfläche unseres Planeten mit Ausnahme der Antarktis unter sich aufgeteilt haben. In vielen frühen und allen modernen Staaten gab es schriftkundige Eliten, und in vielen heutigen Staaten kann auch die Bevölkerung lesen und schreiben. Untergegangene Staaten hinterließen meist ein sichtbares archäologisches Erbe, wie Tempelruinen von einheitlicher Architektur, mindestens vier Siedlungstypen von verschiedener Größe sowie einheitliche Keramikstile, die in Gebieten von Zehntausenden von Quadratkilometern Größe anzutreffen waren. Wir wissen deshalb, daß Staaten um 3700 v. Chr. in Mesopotamien und um 300 v. Chr. in Mesoamerika, vor über 2000 Jahren in den Anden, China und Südwestasien und vor über 1000 Jahren in Westafrika entstanden. In der neueren Geschichte war wiederholt zu beobachten, wie Staaten aus Häuptlingsreichen hervorgingen. Wir besitzen somit weit mehr Informationen über Staaten und ihre Entstehung als über Häuptlingsreiche, Stämme und Gruppen aus vergangenen Zeiten.
Die ersten Staaten ähnelten in vieler Hinsicht großen (d. h. aus einer Vielzahl von Dörfern bestehenden) Häuptlingsreichen. In puncto Größe setzten sie den Trend von der Gruppe über die Stammesgesellschaft zum Häuptlingsreich fort. Während die Bevölkerung von Häuptlingsreichen in der Regel ein paar Tausend bis einige Zehntausend betrug, haben die meisten heutigen Staaten über eine Million Einwohner, China sogar über eine Milliarde. Aus dem Sitz des obersten Häuptlings wurde in vielen Fällen die Hauptstadt eines Staates. Andere Bevölkerungszentren entwickelten sich ebenfalls zu echten Städten, wie sie in Häuptlingsreichen noch nicht anzutreffen waren. Städte unterscheiden sich von Dörfern durch monumentale öffentliche Bauten, Paläste von Herrschern, die Anhäufung von Kapital durch Erhebung von Tribut/Steuern sowie das geballte Zusammenleben von Menschen, die anderen Tätigkeiten als der Nahrungsproduktion nachgehen.
Die frühen Staaten hatten einen Führer mit erblicher Stellung, dessen Titel dem eines Königs entsprach. Sein Amt war vergleichbar mit einem obersten Häuptling, nur daß er ein noch umfangreicheres Informations-, Entscheidungs- und Machtmonopol
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