Arm und Reich
chinesischer Schrift im indonesischen Teil Neuguineas offiziell verboten ist. In großen Teilen Indonesiens liegt der Handel in den Händen chinesischer Einwanderer. Latente gegenseitige Ängste zwischen den im Wirtschaftsleben dominierenden Chinesen und den politisch mächtigen Javanern entluden sich 1966 in blutigen Unruhen, bei denen Javaner Hunderttausende von Chinesen abschlachteten. Wiwor und Sauakari teilten den Groll der meisten Neuguineer gegen die javanische Diktatur, aber sie verachteten sich auch gegenseitig. Hochlandbewohner blicken auf Tieflandbewohner als verweichlichte Sagofresser herab, während sie von diesen umgekehrt mit Hinweis auf ihre Lockenpracht und die ihnen nachgesagte Arroganz für bornierte »Großköpfe« gehalten werden. Nachdem wir in einem abgelegenen Teil des Dschungels unser Lager aufgeschlagen hatten, gerieten Wiwor und Sauakari schon nach wenigen Tagen so heftig aneinander, daß sie drauf und dran waren, mit Äxten aufeinander loszugehen.
Spannungen zwischen den verschiedenen Volksgruppen, die Achmad, Wiwor, Sauakari und Ping Wah repräsentieren, beherrschen das politische Geschehen in Indonesien, dem Land mit der viertgrößten Bevölkerung der Welt. Die Wurzeln dieser Spannungen liegen Tausende von Jahren in der Vergangenheit. Meist denken wir bei großen, transozeanischen Völkerverschiebungen an die Ereignisse in Nord- und Südamerika nach der Entdeckungsreise des Kolumbus, sprich die großangelegte Vertreibung und Ausrottung von Nichteuropäern durch Europäer. Es kam aber schon lange vor Kolumbus zu Völkerverschiebungen, bei denen in vorgeschichtlicher Zeit nichteuropäische Völker andere nichteuropäische Völker verdrängten. Wiwor, Achmad und Sauakari stehen für drei vorgeschichtliche Bevölkerungswellen, die vom asiatischen Festland in den Pazifik rollten. Die Hochlandbewohner, zu denen Wiwor gehört, sind wahrscheinlich die Nachfahren einer frühen Welle, die vor 40 000 Jahren in der Besiedlung Neuguineas gipfelte. Achmads Vorfahren waren ursprünglich an der südchinesischen Küste beheimatet und kamen vor etwa 4000 Jahren nach Java, wo sie die Verdrängung von Völkern vollendeten, die mit Wiwors Vorfahren verwandt waren. Mit der gleichen Welle gelangten Sauakaris Ahnen vor etwa 3600 Jahren von der südchinesischen Küste nach Neuguinea, während Ping Wahs Vorfahren noch heute in China leben.
Die Völkerverschiebung, die Achmads und Sauakaris Vorfahren nach Java beziehungsweise Neuguinea brachte, die sogenannte austronesische Expansion, war eine der größten derartigen Bewegungen der letzten 6000 Jahre. Durch sie wurden unter anderem die entlegensten Inseln des Pazifiks von den Polynesiern besiedelt, den größten Seefahrern unter den Völkern der Jungsteinzeit. Austronesische Sprachen werden heute von Madagaskar bis zur Osterinsel – das entspricht mehr als der Hälfte des Erdumfangs – als Muttersprache gesprochen. In diesem Buch, das von Völkerverschiebungen seit dem Ende des Eiszeitalters handelt, spielt die austronesische Expansion eine zentrale Rolle als eines der wichtigsten Phänomene, die einer Erklärung bedürfen. Warum besiedelten austronesische Völker, die ursprünglich vom chinesischen Festland stammten, Java und die anderen Inseln Indonesiens, um dort ältere Bewohner zu verdrängen, und warum besiedelten nicht umgekehrt Indonesier China und verdrängten die Chinesen? Warum waren die Austronesier nach der Eroberung ganz Indonesiens nicht in der Lage, mehr als einen schmalen Küstenstreifen des neuguineischen Tieflands in Besitz zu nehmen, und warum war es für sie völlig unmöglich, Wiwors Volk im neuguineischen Hochland zu verdrängen? Wie wurden die Nachfahren chinesischer Einwanderer zu Polynesiern?
Heute ist die Bevölkerung Javas, der meisten anderen indonesischen Inseln (mit Ausnahme der östlichsten) und der Philippinen relativ homogen. Vom Aussehen her und genetisch ähneln die Bewohner dieser Inseln den Südchinesen und stärker noch den Südostasiaten, insbesondere den Bewohnern der Malaiischen Halbinsel. Nicht minder homogen sind ihre Sprachen: Auf den Philippinen und im westlichen und mittleren Teil Indonesiens werden zwar nicht weniger als 374 Sprachen gesprochen, doch alle sind eng miteinander verwandt und gehören zur gleichen Unter-Untergruppe (westliche malaiopolynesische Sprachen) der austronesischen Sprachfamilie. Auf dem asiatischen Festland leben Sprecher
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