Arm und Reich
Südamerikas den Weg in diese Regionen fanden. Sobald die Europäer Haustiere und Anbaupflanzen eingeführt hatten, verwandelten sich diese Gebiete in fruchtbare Regionen, wovon nicht nur europäische Siedler, sondern in einigen Fällen auch Indianer profitierten. So erlangten indianische Gesellschaften in den nordamerikanischen Präriegebieten, im Westen der USA und in der argentinischen Pampa großen Ruhm für ihr Geschick im Umgang mit Pferden, aber auch mit Rinder- und Schafherden. Jene berittenen Präriekrieger und Navajo-Schafzüchter und -Weber prägen heute das Bild weißer Amerikaner von den Indianern; dabei wird oft vergessen, daß die Voraussetzungen für dieses Image erst nach 1492 geschaffen wurden. Diese Beispiele zeigen, daß das einzige, was fehlte, um in weiten Teilen Nord- und Südamerikas die Landwirtschaft auf den Plan zu rufen, geeignete Haustiere und Anbaupflanzen waren. In jenen Teilen Nord- und Südamerikas, in denen die Landwirtschaft schon länger existierte, wies sie fünf schwerwiegende Nachteile gegenüber ihrem eurasischen Pendant auf: starke Abhängigkeit von Mais, einer eiweißarmen Pflanze (im Gegensatz zu Eurasiens diversen eiweißreichen Getreidearten); mühsames Einpflanzen der Saat von Hand (statt Breitsaat); Feldbestellung per Hand (statt durch Pflügen mit Hilfe von Zugtieren, wodurch eine einzelne Person ein viel größeres Stück Land bearbeiten kann und die Bestellung fruchtbarer, aber harter Böden und Soden ermöglicht wird, die von Hand nur schwer zu bearbeiten sind, wie etwa die Böden der nordamerikanischen Prärie); Fehlen von tierischem Dünger zur Ertragssteigerung; Verrichtung landwirtschaftlicher Tätigkeiten wie Dreschen, Mahlen und Bewässern ausschließlich mit menschlicher (statt tierischer) Muskelkraft. All diese Unterschiede lassen darauf schließen, daß die eurasische Landwirtschaft im Jahr 1492 durchschnittlich mehr Kalorien und Eiweiß pro investierter Arbeitsstunde erzeugte als die indianische.
Diese Unterschiede sind von großer Bedeutung für die Erklärung der Ungleichheit eurasischer und indianischer Gesellschaften. Die wichtigsten unmittelbaren Faktoren, die aus ihnen resultierten, waren Unterschiede in bezug auf Krankheitserreger, Technik, politische Organisationsformen und Schrift. Den unmittelbarsten Zusammenhang zwischen einzelnen Faktoren gab es bei Krankheitserregern und Landwirtschaft. Zu den Infektionskrankheiten, von denen eurasische Gesellschaften mit hoher Bevölkerungsdichte regelmäßig heimgesucht wurden und gegen die viele Eurasier folglich eine Immunabwehr entwickelten oder erbliche Abwehrkräfte besaßen, zählte das ganze Spektrum der verheerendsten Krankheiten der Geschichte: Pocken, Masern, Grippe, Pest, Tuberkulose, Fleckfieber, Cholera, Malaria und einige weitere. Verglichen mit dieser Gruselliste waren die einzigen Massen-Infektionskrankheiten, die mit Gewißheit in präkolumbianischen Indianergesellschaften auftraten, nichtsyphilitische Spirochäteninfektionen. (Wie ich in Kapitel 10 ausführte, ist bis heute ungeklärt, ob die Syphilis ursprünglich eurasischer oder amerikanischer Herkunft ist; die Behauptung, die Tuberkulose sei schon vor der Ankunft des Kolumbus’ in Amerika bekannt gewesen, halte ich für unbewiesen.)
Die Unterschiede in bezug auf Krankheitserreger waren paradoxerweise das Resultat von Unterschieden in der Ausstattung mit ansonsten äußerst nützlichen Haustieren. Die meisten der Mikroben, auf deren Konto Infektionskrankheiten in Gesellschaften mit hoher Bevölkerungsdichte gehen, entwickelten sich im Laufe der Evolution aus Vorläufern, die Auslöser von Infektionskrankheiten bei Haustieren waren, mit denen bäuerliche Bevölkerungen ab der Zeit vor etwa 10 000 Jahren in dauerndem innigem Kontakt standen. Da Eurasien mit zahlreichen Haustierarten gesegnet war, entwickelten sich dort entsprechend viele derartige Mikroben, während in Nord- und Südamerika weder Haustiere noch von diesen übertragene Mikroben stark vertreten waren. Andere Gründe für die geringe Zahl lebensbedrohlicher Krankheitserreger, die in indianischen Gesellschaften heimisch waren, bestanden darin, daß Dörfer, ideale Brutstätten von Krankheitsepidemien, in Nord- und Südamerika erst Tausende von Jahren später aufkamen als in Eurasien und daß die drei Regionen der Neuen Welt, in denen sich Gesellschaften mit urbanen Zentren entwickelt hatten (Anden,
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