Arm und Reich
transportieren. Auch in der Töpferei und der Uhrenherstellung gewann das Rad in Eurasien große Bedeutung. All diese Verwendungszwecke waren den Bewohnern Nord- und Südamerikas fremd; nur in Keramikgegenständen aus Mexiko, die als Spielzeug dienten, tauchte das Rad überhaupt auf. – Das verbleibende Gebiet der Technik, das Erwähnung verdient, ist die Seeschiffahrt. In vielen eurasischen Gesellschaften wurden große Segelschiffe gebaut, von denen einige sogar gegen den Wind segeln und Ozeane überqueren konnten, ausgerüstet mit Sextanten, Magnetkompassen und Kanonen. In puncto Fassungsvermögen, Geschwindigkeit, Manövrierfähigkeit und Seetüchtigkeit waren diese eurasischen Schiffe den Flößen, die im Handel zwischen den fortgeschrittensten Gesellschaften der Neuen Welt in den Anden und in Mesoamerika eingesetzt wurden, haushoch überlegen. Die indianischen Flöße fuhren vor dem Wind her entlang der Pazifikküste. Für Pizarro war es auf seiner ersten Reise nach Peru ein Kinderspiel, ein solches Floß mit seinem Schiff einzuholen und aufzubringen.
Abgesehen von Krankheitserregern und technischem Entwicklungsstand unterschieden sich die eurasischen und indianischen Gesellschaften auch in der politischen Organisation. Im ausgehenden Mittelalter war der größte Teil der Fläche Eurasiens unter kleineren und größeren Staaten aufgeteilt. Etliche davon, so die Staaten der Habsburger, der Osmanen und der Chinesen, der Mogulstaat in Indien und der mongolische Staat auf dem Höhepunkt seiner Macht im 13. Jahrhundert, waren vielsprachige Gebilde, deren Ursprung in der Eroberung anderer Staaten lag und die wir deshalb gemeinhin als »Reiche« bezeichnen. Viele eurasische Staaten und Reiche besaßen offizielle Religionen, die den Zusammenhalt förderten, indem sie der Legitimierung politischer Herrschaft und von Kriegen gegen andere Völker dienten. Die Verbreitung von Stammesgesellschaften und Nomadengruppen beschränkte sich in Eurasien weitgehend auf die Rentierzüchter in den Polargebieten und die Jäger und Sammler Sibiriens sowie einige Enklaven auf dem indischen Subkontinent und in Südostasien.
Zwei Reiche in Nord- und Südamerika, das der Azteken und das der Inkas, ähnelten ihren eurasischen Pendants in bezug auf Größe, Bevölkerungszahl, Vielsprachigkeit, offizielle Religion und den Ursprung in der Eroberung kleinerer Staaten. Neben ihnen existierten in der Neuen Welt keine weiteren politischen Gebilde, die in der Lage waren, Mittel und Kräfte für öffentliche Bauten oder Kriege in einem solchen Umfang zu mobilisieren, wie es viele eurasische Staaten vermochten. Indessen besaßen sieben europäische Staaten (Spanien, Portugal, England, Frankreich, Holland, Schweden und Dänemark) die Mittel, um sich zwischen 1492 und 1666 Kolonien in Amerika anzueignen. In der Neuen Welt gab es ferner zahlreiche Häuptlingsreiche (einige waren im Grunde kleine Staaten), die vornehmlich im tropischen Südamerika, in Teilen Mesoamerikas außerhalb der Reichweite der Azteken und im Südwesten der USA angesiedelt waren. In allen übrigen Regionen Amerikas ging der politische Zusammenschluß der Bewohner nicht über die Ebene von Stammesgemeinschaften oder Jäger-Sammler-Gruppen hinaus.
Der letzte unmittelbare Faktor, der hier angeführt werden soll, ist die Schrift. In den meisten eurasischen Staaten gab es eine schriftkundige Bürokratie, und in einigen konnte sogar ein beachtlicher Teil der Bevölkerung lesen und schreiben. Die Schrift war ein mächtiges Instrument in der Hand europäischer Gesellschaften; sie spielte eine ungemein wichtige Rolle, indem sie die staatliche Verwaltung und den wirtschaftlichen Austausch effizienter machte, zu Entdeckungs- und Eroberungsfahrten nützliche Informationen beisteuerte und Wissen aus fernen Zeiten und von fernen Orten zugänglich machte. Demgegenüber beschränkte sich die Verbreitung der Schrift in Nord- und Südamerika auf die Oberschicht in einem kleinen Teil Mesoamerikas. Die Inkas verwendeten zwar in ihrem Buchhaltungswesen eine Art Knotenschrift (Quipu genannt), doch diese war zur Übermittlung detaillierter Informationen kaum so geeignet, wie wir es von anderen Schriften kennen.
Eurasische Gesellschaften besaßen demnach zur Zeit des Kolumbus’ große Vorteile gegenüber indianischen Gesellschaften, was Landwirtschaft, Krankheitserreger, Technik (einschließlich Waffen), politische
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