Arm und Reich
die ersten Amerikaner benötigten, um mit den lokalen Pflanzen-, Tier- und Gesteinsarten ihrer neuen Umgebung vertraut zu werden? Wenn wir wieder den Vergleich mit neuguineischen und polynesischen Jägern und Sammlern oder Bauern ziehen, die in fremde Gebiete vordrangen und sie besiedelten, wie die Maoris in Neuseeland oder die Tudawhe im neuguineischen Karimui-Becken, dann ist anzunehmen, daß die ersten Besiedler Amerikas in weit weniger als einem Jahrhundert die für die Steingewinnung lohnendsten Orte entdeckten und lernten, nützliche von giftigen Wildpflanzen und -tieren zu unterscheiden.
Welche Rolle spielte drittens der zeitliche Vorsprung der Eurasier auf technischem Gebiet? Die frühen Bauern in Vorderasien und China waren Erben all jener Techniken, die von der Anatomie und vom Verhalten her moderne Homo sapiens in diesen Regionen seit mehreren Jahrzehntausenden hervorgebracht hatten. So konnten die ersten Getreidebauern Vorderasiens auf Steinsicheln, unterirdische Nahrungsspeicher und andere Errungenschaften zurückgreifen, die dortige Jäger und Sammler zum Ernten, Lagern und Verarbeiten von Wildgetreide genutzt hatten. Demgegenüber führten die ersten Amerikaner bei ihrer Ankunft in Alaska Gegenstände mit sich, die auf die arktische Tundra Sibiriens zugeschnitten waren. Für jeden neuen Lebensraum, den sie betraten, mußten sie die geeigneten Werkzeuge und Methoden selbst erfinden. Dieser technische Rückstand könnte wesentlich zur Verzögerung der weiteren Entwicklung in Nord- und Südamerika beigetragen haben.
Ein Faktor, der noch offenkundiger zu der Verspätung beitrug, war die Ausstattung mit Wildpflanzen und -tieren, dem »Rohmaterial« aller Domestikationsbemühungen. Wie in Kapitel 5 erörtert, entscheiden sich Jäger und Sammler nicht etwa für die Landwirtschaft, weil sie den Segen vorhersehen, der in ferner Zukunft ihren Nachfahren zuteil werden könnte, sondern weil die bäuerliche Nahrungsproduktion von Beginn an Vorteile gegenüber der Lebensweise der Jäger und Sammler verspricht. Verglichen mit dem Jagen und Sammeln, war die im Entstehen begriffene Landwirtschaft in Amerika weniger attraktiv als in Vorderasien oder China, was zum Teil daran lag, daß in Nord- und Südamerika so gut wie keine domestizierbaren Säugetiere zur Verfügung standen.
Deshalb waren die angehenden Bauern in Amerika weiterhin auf Wild als Lieferant von tierischem Eiweiß angewiesen und blieben zwangsläufig Teilzeit-Jäger und -Sammler, während in Vorderasien ebenso wie in China die Domestikation von Tieren zeitlich sehr dicht auf die Pflanzendomestikation folgte, so daß Anbaupflanzen und Haustiere bald die Oberhand über die Jagd- und Sammelwirtschaft gewannen. Hinzu kam, daß eurasische Haustiere ihrerseits die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft verbesserten, indem sie Dünger lieferten und später Pflüge zogen.
Bestimmte Merkmale amerikanischer Wildpflanzen trugen ebenfalls dazu bei, daß die Landwirtschaft in Amerika im Vergleich zum Jagen und Sammeln schlechter abschnitt. Dies läßt sich am deutlichsten für den Osten der USA belegen, wo weniger als ein Dutzend Wildpflanzen domestiziert wurden; darunter waren kleinsamige, aber keine großsamigen Getreidearten und auch keine Hülsenfrüchte, Faserpflanzen, Obst- oder Nußbäume. Ähnlich klar liegen die Dinge bei Mesoamerikas Hauptanbaupflanze, dem Mais, der auch in anderen Teilen Nord- und Südamerikas zum wichtigsten Kulturgewächs aufstieg. Während in Vorderasien aus Wildweizen und -gerste mit minimalen Änderungen binnen weniger Jahrhunderte Kulturpflanzen gezüchtet wurden, dauerte es möglicherweise Jahrtausende, bis aus Teosinte Mais wurde; dazu bedurfte es drastischer Veränderungen der Reproduktionsbiologie, die Samen mußten viel größer werden und ihre steinharten Schalen verlieren, und auch die Kolben mußten enorm wachsen.
Selbst wenn wir von den jüngst postulierten späteren Zeitpunkten des Beginns der Pflanzendomestikation in Amerika ausgehen, wären somit etwa 1500 bis 2000 Jahre zwischen jenem Auftakt (um 3000–2500 v. Chr.) und der Existenz ganzjährig bewohnter Dörfer an vielen Orten Mesoamerikas (1800–500 v. Chr.), in den Anden und im Osten der USA vergangen. Die indianische Landwirtschaft blieb lange Zeit ein bloßes Anhängsel der Nahrungsgewinnung durch Jagen und Sammeln und diente nirgends als Lebensgrundlage größerer Populationen. Geht man von den
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