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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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in Kapitel 4 und 9 sahen, spielten in beiden Hemisphären nur relativ kleine Gebiete die Rolle von »Ursprungsgebieten«, in denen die Landwirtschaft unab­hängig entstand, um sich von dort auszubreiten. Es han­delte sich dabei in Eurasien um den Bereich des Frucht­baren Halbmonds und China und in Amerika um die Anden, das Amazonasgebiet, Mesoamerika und den Osten der USA. Das Tempo der Ausbreitung der wich­tigsten Entwicklungen ist für Europa am besten doku­mentiert, sicher wegen der großen Zahl dortiger Archäo­logen. Wie Tabelle 17.1 für England zeigt, liegt zwischen dem Aufkommen von Landwirtschaft und seßhaftem Dorfleben in Vorderasien und dem Eintreffen dieser Er­rungenschaften in England eine Zeitspanne von 5000 Jahren; dagegen brauchten Häuptlingsreiche, Staaten, die Schrift und insbesondere Metallwerkzeuge für den Weg von Vorderasien nach England erheblich weniger Zeit: 2000 Jahre vergingen, bis Metallwerkzeuge aus Kupfer und Bronze in England weit verbreitet waren, und nur 250 Jahre, bis viele Engländer auch Eisenwerkzeuge besaßen. Offenbar war es für eine Gesellschaft seßhafter Bauern wesentlich leichter, die Metallverarbeitung von einer anderen Agrargesellschaft zu »borgen«, als für no­madische Jäger und Sammler, die Landwirtschaft von seßhaften Bauern zu übernehmen (oder von Bauern ver­drängt zu werden).
    Woran lag es, daß sich alle wichtigen Entwicklungen in Amerika später vollzogen als in Eurasien? Vier Grup­pen von Gründen bieten sich zur Beantwortung die­ser Frage an: Amerika hatte einen späteren Start, eine schlechtere Ausstattung mit Wildpflanzen und -tieren, die als Domestikationskandidaten in Frage kamen, so­wie größere Diffusionsbarrieren, und möglicherweise waren die Gebiete mit hoher Siedlungsdichte in Ame­rika kleiner und isolierter als in Eurasien.
    Beginnen wir mit dem zeitlichen Vorsprung Eurasi­ens. Seit ungefähr einer Million Jahren leben Menschen in Eurasien, also sehr viel länger als in Nord- und Süd­amerika. Nach den archäologischen Funden, die wir in Kapitel 1 erörterten, begann die Besiedlung Amerikas, angefangen mit Alaska, erst um 12 000 v. Chr. Einige Jahrhunderte vor 11 000 v. Chr. begann der Vorstoß der sogenannten Clovisjäger in den Raum südlich der kana­dischen Eiskappe, um gegen 10 000 v. Chr. die Südspitze Südamerikas zu erreichen. Selbst wenn sich die Behaup­tung als wahr erweisen sollte, daß es ältere menschliche Bewohner in Amerika gab, war doch die Zahl jener po­stulierten Prä-Clovis-Menschen aus unbekannten Grün­den sehr spärlich, und sie gründeten auch keine größere Zahl eiszeitlicher Jäger- und Sammlergesellschaften mit wachsenden Bevölkerungen und Neuerungen in Technik und Kunst wie in der Alten Welt. In Vorderasien nahte nur 1500 Jahre, nachdem die Nachfahren der Clovis-Jä­ger den Süden von Südamerika erreicht hatten, bereits die Geburt der Landwirtschaft.
    Mehrere mögliche Konsequenzen des eurasischen Vor­sprungs verdienen eine nähere Betrachtung. Erstens: Könnte nach 11 000 v. Chr. sehr viel Zeit verstrichen sein, bis Nord- und Südamerika sich mit Menschen gefüllt hatten? Eine Analyse der wahrscheinlichen Zahlen und Größenordnungen führt zu dem Ergebnis, daß dieser Ef­fekt zur Erklärung der 5000 Jahre späteren Entstehung bäuerlicher Siedlungen kaum beitragen kann. Nach den Berechnungen in Kapitel 1 hätte die Besiedlung Nord- und Südamerikas durch Jäger und Sammler schon in­nerhalb von 1000 Jahren einen Sättigungsgrad erreicht, selbst wenn ursprünglich nicht mehr als 100 wagemu­tige Pioniere von Kanada aus südwärts in die USA vor­gedrungen sein sollten und ihr Bevölkerungswachstum lediglich ein Prozent pro Jahr betrug. Bei einer Ausbrei­tungsgeschwindigkeit von einer Meile im Monat hätten jene Pioniere die Südspitze Südamerikas schon 700 Jah­re nach der Überschreitung der kanadischen Grenze er­reicht. Diese angenommenen Ausbreitungs- und Bevöl­kerungswachstumsraten sind keineswegs hoch, sondern im Gegenteil sehr niedrig, vergleicht man sie mit bekann­ten Raten der Besiedlung unberührter beziehungsweise spärlich besiedelter Gebiete in der jüngeren Geschichte. Es ist deshalb anzunehmen, daß der gesamte amerika­nische Doppelkontinent binnen weniger Jahrhunderte nach der Ankunft der ersten Kolonisten vollständig von Jägern und Sammlern in Besitz genommen war.
    Entsprach zweitens die Verspätung von 5000 Jahren möglicherweise zum großen Teil dem Zeitraum, den

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