Arm und Reich
nachgegrübelt hätte, wäre sicher zuallerletzt darauf gekommen, daß ausgerechnet Europa, das von den drei Regionen der Alten Welt während des größten Teils jener 10 000 Jahre die rückständigste Region war, einmal die Vorherrschaft erlangen würde. Von 8500 v. Chr. bis zum Aufstieg Griechenlands und später Roms ab ca. 500 v. Chr. stammten fast alle wichtigen Neuerungen im westlichen Eurasien – Pflanzen- und Tierdomestikation, Schrift, Metallverarbeitung, Rad, Staatenbildung und so weiter – aus dem Bereich des Fruchtbaren Halbmonds in Vorderasien oder dessen Umgebung. Bis zum Aufkommen von Wassermühlen ab etwa 900 n. Chr. leistete Europa westlich und nördlich der Alpen keine größeren Beiträge zu Technik und Zivilisation der Alten Welt, sondern war lediglich Nutznießer von Entwicklungen, die sich im östlichen Mittelmeerraum, in Vorderasien und China abspielten. Selbst zwischen 1000 und 1450 n. Chr. war der Strom wissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse überwiegend von den islamischen Gesellschaften, die sich von Indien bis Nordafrika erstreckten, nach Europa gerichtet und nicht umgekehrt. In diesen Jahrhunderten war China, wo die Landwirtschaft nur wenig später als in Vorderasien erfunden wurde, in der Technik weltweit führend.
Wie kam es dann, daß Vorderasien und China ihren enormen Vorsprung von mehreren tausend Jahren vor dem Nachzügler Europa einbüßten? Als Antwort kann natürlich auf unmittelbare Faktoren verwiesen werden, die hinter dem Aufstieg Europas standen: Entstehung von Kaufmannsschicht und Kapitalismus, Schutz von Erfindungen durch Patente, kein Aufstieg absoluter Despoten, keine vernichtende Besteuerung, kritischempirische Geisteshaltung in griechischjüdischchristlicher Tradition. Es bleibt aber die Frage nach den tieferen Ursachen dieser unmittelbaren Faktoren: Warum bildeten sie sich in Europa heraus und nicht in China oder Vorderasien?
Für Vorderasien ist die Antwort klar. Nach dem Verlust seines Vorsprungs, der auf dem gehäuften Vorkommen domestizierbarer Wildpflanzen und -tiere beruhte, besaß der Fruchtbare Halbmond keine zwingenden geographischen Vorteile mehr. Wie der Vorsprung allmählich dahinschwand, läßt sich anhand der immer weiteren Verlagerung der mächtigsten Reiche in Richtung Westen verfolgen. Nach dem Aufstieg vorderasiatischer Staaten im 4. Jahrtausend v. Chr. blieb das Machtzentrum zunächst innerhalb der Region und wechselte zwischen Reichen wie Babylonien, dem Hethiterreich, Assyrien und Persien. Mit der Unterwerfung aller fortgeschrittenen Zivilisationen, von Griechenland im Westen bis Indien im Osten, durch Alexander den Großen im späten 4. Jahrhundert v. Chr. verschob sich die Macht erstmals unwiderruflich nach Westen. Im 2. Jahrhundert v. Chr. verlagerte sie sich mit der Unterwerfung Griechenlands durch Rom noch weiter westwärts und schließlich, nach dem Fall des Römischen Reiches, nach West- und Nordeuropa.
Der Hauptgrund für diese Machtverschiebung wird offenkundig, sobald man das Vorderasien der Gegenwart mit Schilderungen aus der Antike vergleicht. Heute ist schon die Bezeichnung »Fruchtbarer Halbmond« ein Widerspruch in sich. Weite Teile dieser Region sind Wüste, Halbwüste, Steppe oder schwer erosionsgeschädigte Gebiete, die sich für eine landwirtschaftliche Nutzung nicht eignen. Hinter dem befristeten Reichtum einiger Staaten der Region, der auf einem nicht nachwachsenden Rohstoff beruht, dem Öl, verbergen sich eine elementare Armut und das Unvermögen, genügend Nahrung für den Eigenbedarf zu produzieren.
In der Antike waren dagegen große Teile Vorderasiens und des östlichen Mittelmeerraums inklusive Griechenlands mit Wald bedeckt. Wie es zur Wandlung der Region von fruchtbarem Waldland zu Wüste oder erosionsgeschädigtem Buschland kam, wissen Paläobotaniker und Archäologen zu berichten. Die Wälder mußten der Landwirtschaft weichen oder wurden gerodet, um Bauholz oder Brennmaterial für den häuslichen Bedarf oder für die Gipsherstellung zu gewinnen. Wegen der geringen Niederschlagsmengen und der entsprechend niedrigen Primärproduktivität konnte die Vegetation nicht so schnell nachwachsen, wie sie vernichtet wurde; ein übriges taten die vielen Ziegen, die überall grasten. Nach dem Verschwinden von Wald und Grasdecke nahm die Erosion ihren Lauf, und die Täler versandeten, während die Bewässerungslandwirtschaft zur allmählichen
Weitere Kostenlose Bücher