Arm und Reich
objektiv quantifizierbar und nicht umstritten sind. Man mag an meinem subjektiven Eindruck zweifeln, daß Neuguineer intelligenter sind als Europäer, doch niemand kann bestreiten, daß Neuguinea viel kleiner ist und sehr viel weniger große Säugetierarten besitzt als Eurasien. Bringt man diese Unterschiede zur Sprache, ruft man jedoch bei Historikern Unmut hervor und sieht sich rasch dem Vorwurf des »geographischen Determinismus« ausgesetzt. Dieses Etikett weckt offenbar unangenehme Assoziationen wie etwa die, daß menschliche Kreativität nichts zähle oder daß Menschen nur willenlose Roboter seien, fest programmiert durch die Einflüsse von Klima, Flora und Fauna. Solche Befürchtungen sind natürlich unbegründet. Ohne die menschliche Erfindungsgabe würden wir unser Fleisch noch heute mit Steinwerkzeugen zerkleinern und roh essen, wie es unsere Vorfahren vor einer Million Jahren taten. In jeder menschlichen Gesellschaft gibt es erfinderische Geister. Wahr ist aber auch, daß die Umwelt in manchen Regionen mehr Ausgangsmaterial bereithält und günstigere Bedingungen für die Nutzung von Erfindungen bietet als in anderen.
Diese Antworten auf Yalis Frage sind sicher länger und komplizierter, als er sie sich gewünscht hätte. Historiker werden sie dagegen eher für zu kurz und simplifizierend halten. Wenn die Geschichte aller Kontinente der letzten 13000 Jahre in ein Buch von 550 Seiten gezwängt wird, bleibt im Durchschnitt etwa eine Seite je Kontinent und 120 Jahre, so daß Kürze und Vereinfachung unvermeidlich sind. Die komprimierte Darstellung hat aber auch einen Vorteil: Langzeitvergleiche zwischen Regionen liefern Erkenntnisse, die Untersuchungen kürzerer Zeitspannen in einzelnen Gesellschaften nicht hergeben.
Natürlich bleiben zahlreiche Probleme, die Yalis Frage aufwirft, ungelöst. Zur Zeit können wir nur Teilantworten geben und Vorschläge für die weitere Forschung machen, nicht jedoch eine vollständige Theorie präsentieren. Es kommt jetzt darauf an, die naturwissenschaftliche Komponente der Humangeschichte auszubauen, vergleichbar mit anerkannten historischen Naturwissenschaften wie Astronomie, Geologie und Evolutionsbiologie. Ich möchte dieses Buch deshalb mit einigen Gedanken zur Zukunft der Geschichtswissenschaft und einem Ausblick auf einige ungelöste Probleme abschließen.
Die nächstliegende Fortführung dieses Buchs besteht in der weiteren Quantifizierung – und somit überzeugenderen Darlegung – der interkontinentalen Unterschiede hinsichtlich der vier am wichtigsten erscheinenden Faktorengruppen. Um die Unterschiede im Ausgangsmaterial der Domestikation zu veranschaulichen, hatte ich für jeden Kontinent die Gesamtzahl wilder landbewohnender Pflanzen- und Fleischfresser (Tabelle 8.2) sowie großsamiger Getreidearten (Tabelle 7.1) angegeben. Es würde sich anbieten, auch die entsprechende Zahl großsamiger Hülsenfrüchte, wie Bohnen, Erbsen und Wicken, zu ermitteln. Außerdem habe ich Faktoren angeführt, die große Säugetiere als Domestikationskandidaten disqualifizieren, aber keine genaueren Angaben darüber gemacht, wie viele Kandidaten auf jedem Kontinent durch jeden dieser Faktoren aus dem Rennen geworfen werden. Dies wäre interessant zu wissen, insbesondere für Afrika, wo ein höherer Anteil der in Frage kommenden Tierarten ausschied als in Eurasien: Welche disqualifizierenden Faktoren spielten in Afrika die größte Rolle, und worauf ist ihr häufiges Auftreten bei afrikanischen Säugetieren zurückzuführen? Es sollte auch quantitatives Datenmaterial zusammengetragen werden, um meine vorläufigen Berechnungen zu überprüfen, nach denen die Diffusion entlang der Hauptachsen Eurasiens, Nord- und Südamerikas und Afrikas in unterschiedlichem Tempo verlief.
Eine zweite Fortführung wäre die Betrachtung kleinerer räumlicher und zeitlicher Einheiten als der für dieses Buch gewählten. Vielen Lesern ist sicher schon die Frage in den Sinn gekommen (sie drängt sich ja geradezu auf), warum es innerhalb Eurasiens die Gesellschaften Europas und nicht Vorderasiens, Chinas oder Indiens waren, die Amerika und Australien kolonisierten, in der technischen Entwicklung die Oberhand gewannen und die politische und wirtschaftliche Führungsrolle in der modernen Welt übernahmen. Ein Historiker, der irgendwann zwischen 8500 v. Chr. und 1450 n. Chr. gelebt und über den weiteren Gang der Geschichte
Weitere Kostenlose Bücher