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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Gesetze, die in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts die Einführung der elektrischen Straßenbeleuchtung in London unterbanden, an den Isolationismus der USA zwischen den Weltkriegen und an viele andere, durch die lokale Politik bedingte Rückschritte in zahlreichen Ländern. In China gab es jedoch einen entscheidenden Unterschied, und der bestand in der politischen Einheit der gesamten Region unter einem Herrscher. So führte eine einzige Entscheidung dazu, daß in dem ganzen rie­sigen Raum keine Flotten mehr entsandt wurden. Un­umkehrbar wurde sie obendrein dadurch, daß es keine Werften mehr gab, auf denen Schiffe hätten gebaut wer­den können, um die Torheit jener Entscheidung zu be­weisen und für den Wiederaufbau anderer Werften als Vorbild zu dienen.
    Man vergleiche diese Entwicklung in China mit dem Beginn der Erkundung der Meere von Europa aus, das in viele kleinere und größere Staaten zersplittert war. Chri­stoph Kolumbus, Italiener von Geburt, wandte sich zu­erst an den König von Portugal. Als der sein Ersuchen ablehnte, ihm Schiffe für eine Entdeckungsreise gen We­sten zur Verfügung zu stellen, trat er an den Herzog von Medina-Sedonia heran, der ebenfalls ablehnte, dann an den Grafen von Medina-Celi, der das gleiche tat, und schließlich an den König und die Königin von Spanien. Auch das spanische Königspaar wies Kolumbus’ Ersu­chen zurück, besann sich dann aber eines anderen und gab seinem erneuten Ersuchen statt. Wäre Europa unter einem der ersten drei Herrscher, die Kolumbus die Un­terstützung verweigert hatten, vereint gewesen, so hätte die Kolonisierung Nord- und Südamerikas durch Euro­pa möglicherweise gar nicht erst begonnen.
    Gerade weil Europa so zersplittert war, gelang es Ko­lumbus beim fünften Versuch, einen von Europas Hun­derten von Fürsten für sein Vorhaben zu gewinnen. Nachdem Spanien auf diese Weise die Kolonisierung Amerikas durch Europäer eingeleitet hatte, erkannten bald auch andere europäische Staaten, welche Reichtü­mer dort harrten, was sechs von ihnen veranlaßte, eben­falls Kolonien in Amerika zu gründen. Ähnlich war es mit der Erfindung der Kanone, der elektrischen Beleuch­tung, der Drucktechnik, kleiner Feuerwaffen und zahl­losen anderen Erfindungen: Jede wurde in einigen Teilen Europas aus Gründen, die in den lokalen Verhältnissen wurzelten, anfangs ignoriert oder stieß auf Widerstand, fand aber, nachdem sie sich in einer Region durchsetzen konnte, auch den Weg ins übrige Europa.
    Diese Konsequenzen der politischen Uneinigkeit Eu­ropas stehen in scharfem Gegensatz zu den Folgen der politischen Geschlossenheit Chinas. Immer wieder kam es vor, daß der chinesische Hof Entwicklungen stoppte, nicht nur im Bereich der Hochseeschifffahrt. So brach China die Entwicklung einer raffinierten, wassergetriebe­nen Spinnmaschine ab, machte im 14. Jahrhundert an der Schwelle zu einer industriellen Revolution kehrt, schaffte praktisch alle mechanischen Uhren ab, nachdem seine Uhrmacher Weltrang erlangt hatten, und verabschiedete sich gegen Ende des 15. Jahrhunderts ganz von der Her­stellung mechanischer Geräte und der Weiterentwick­lung der Technik. Diese potentiell schädlichen Folgen der staatlichen Einheit flackerten im modernen China erneut auf, insbesondere während der »Kulturrevoluti­on« der 60er und 70er Jahre, als eine Entscheidung, ge­troffen von einem einzigen Mann an der Spitze des Rie­senreichs oder einer kleinen Führungsclique, das gesam­te Schulwesen des Landes für fünf Jahre lahmlegte.
    Chinas Einheit und Europas Uneinigkeit haben bei­de eine lange Tradition. Die fruchtbarsten Regionen des heutigen China wurden erstmals im Jahr 221 v. Chr. un­ter einem Herrscher vereint und sind es seitdem die mei­ste Zeit geblieben. Seit den Anfängen der Schrift gab es in China ein einziges Schriftsystem; seit langer Zeit do­miniert eine einzige Sprache, und die weitgehende kul­turelle Einheit besteht seit zweitausend Jahren. Demge­genüber ist Europa einer politischen Einigung zu kei­ner Zeit auch nur nahe gekommen: Im 14. Jahrhundert war es in tausend unabhängige Kleinstaaten zersplittert, um 1500 n. Chr. in 500 und in den 80er Jahren unseres Jahrhunderts in 25 Staaten. Während ich dies schreibe, ist die Zahl schon wieder auf fast 40 gestiegen. Immer noch werden in Europa 45 Sprachen gesprochen, jede mit eigenem modifiziertem Alphabet, und die kulturel­le Vielfalt ist gewaltig. Die Meinungsverschiedenheiten, die heute den

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