Arm und Reich
haben, falls sie denn überhaupt eine Rolle spielten? Angenommen, ein Archäologe könnte mit einer Zeitmaschine eine Reise ins Jahr 11 000 v. Chr. unternehmen. Würde er wohl anhand dessen, was er sähe, die Reihenfolge, in welcher auf den verschiedenen Kontinenten technische Zivilisationen entstehen würden, vorhersagen können – und somit in groben Zügen den Zustand der heutigen Welt?
Vielleicht würde sich unser Archäologe fragen, ob ein Entwicklungsvorsprung eine entscheidende Rolle spielen könnte. Afrika wäre dem Rest der Welt dann einen Riesenschritt voraus: Mindestens fünf Millionen Jahre länger als auf jedem anderen Kontinent hatte der Mensch dort nach der Trennung von seinen engsten tierischen Verwandten gelebt. Und falls es stimmt, daß der anatomisch moderne Mensch vor rund 100 000 Jahren in Afrika geboren wurde und von dort zu anderen Kontinenten aufbrach, hätte dies zudem jegliche Entwicklungsvorsprünge wieder zunichte gemacht, zu denen es womöglich anderswo auf der Welt gekommen wäre, so daß die Afrikaner erneut die Nase vorn gehabt hätten. Hinzu kommt, daß die genetische Vielfalt des Menschen nirgendwo so groß ist wie in Afrika; vielleicht würde sich dies auch in besonders vielfältigen Erfindungen niederschlagen.
Doch dann würde der Archäologe vielleicht innehalten und fragen: Was bedeutet eigentlich ein »Vorsprung« im Hinblick auf unser Thema? Der Vergleich mit einem Wettrennen darf nicht wörtlich genommen werden. Wenn mit Vorsprung die Zeit gemeint ist, die vergeht, bis ein ganzer Kontinent nach der Ankunft der ersten Pioniere besiedelt ist, dann reden wir von einer relativ kurzen Spanne: So dauerte selbst die Besiedlung der gesamten Neuen Welt von Nord bis Süd weniger als tausend Jahre. Meint man aber die für die Anpassung an lokale Verhältnisse benötigte Zeit, so gebe ich zu, daß dieser Prozeß in einigen Regionen mit extremen Umweltbedingungen viel Zeit in Anspruch nahm: Beispielsweise dauerte es 9000 Jahre, bis nach der Besiedlung Nordamerikas auch die arktischen Gebiete des Kontinents in Besitz genommen waren. Nachdem erst der Erfindergeist des modernen Menschen erwacht war, ging es jedoch relativ schnell, bis die meisten übrigen Gebiete erforscht und die Anpassung an die dortigen Bedingungen vollzogen war. So benötigten die Vorfahren der Maori, nachdem sie Neuseeland erreicht hatten, offenbar nicht einmal hundert Jahre, bis sie alle für die Steingewinnung lohnenden Orte entdeckt hatten; nur einige Jahrhunderte mehr, bis auch der letzte Moa in einem Terrain, das zu den unwegsamsten der Welt zählt, niedergemetzelt war; und nur wenige Jahrhunderte bis zur Ausbildung vielfältiger Gesellschaftsformen, von Jäger- und Sammlerkulturen an den Küsten bis hin zu bäuerlichen Gesellschaften, die neue Methoden der Speicherung von Lebensmitteln erprobten.
Unser Archäologe würde deshalb vielleicht nach Nord- und Südamerika blicken und den Schluß ziehen, daß Afrikas scheinbar enormer Vorsprung von den ersten Amerikanern binnen höchstens tausend Jahren wettgemacht worden wäre. Danach hätten Amerikas größere Fläche (50 Prozent mehr als Afrikas) und die weitaus vielfältigeren Umweltbedingungen den amerikanischen Indianern einen Vorsprung vor den Afrikanern verschafft.
Als nächstes würde sich der Archäologe vielleicht Eurasien zuwenden und folgenden Gedankengang entwickeln: Eurasien ist von allen Kontinenten der größte. Er war länger besiedelt als jeder andere Kontinent mit Ausnahme Afrikas, wobei die lange Anwesenheit des Menschen in Afrika vor der Besiedlung Eurasiens vor einer Million Jahren womöglich ohnehin zu nichts geführt hätte, weil die Urmenschen damals noch auf sehr primitiver Entwicklungsstufe standen. Unser Archäologe würde dann vielleicht die jungsteinzeitliche Blütezeit im Südwesten Europas vor 12 000 bis 20 000 Jahren mit ihren berühmten Kunstwerken und raffinierten Werkzeugen zur Kenntnis nehmen und sich fragen, ob Eurasien nicht schon damals auf dem Wege war, zumindest in einzelnen Regionen einen Vorsprung zu erringen.
Zu guter Letzt würde der Archäologe den Blick nach Australien/Neuguinea wenden. Als erstes würde er die kleine Fläche von Australien/Neuguinea (es handelt sich um den kleinsten Kontinent), den großen Anteil von Wüsten, die nur wenige Menschen ernähren konnten, die abgeschiedene Lage des Kontinents und seine viel spätere Besiedlung im Vergleich zu
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