Arm und Reich
Afrika und Eurasien bemerken. All das wären Gründe, um Australien/ Neuguinea eine recht langsame Entwicklung menschlicher Zivilisationen vorherzusagen.
Doch es gilt zu bedenken, daß die Australier und Neuguineer mit Abstand die ersten waren, die Flöße oder einfache Boote besaßen. Mindestens so früh wie die Cromagnons in Europa schufen sie Höhlenmalereien. Wie Jonathan Kingdon und Tim Flannery feststellten, verlangte die Besiedlung von Australien/Neuguinea auf dem Weg über die Inseln des asiatischen Festlandsokkels vom Menschen die fortwährende Anpassung an die neuen Umweltbedingungen, die er auf den Inseln Zentralindonesiens – einem wahren Labyrinth von Küsten mit der reichhaltigsten Meeresfauna, den vielfältigsten Korallenriffen und den größten Mangrovenwäldern der Welt – vorfand. Jedesmal, wenn die Kolonisten zur nächsten Insel übersetzten, mußten sie sich erneut anpassen, um den neugewonnenen Lebensraum in Besitz zu nehmen und zu bevölkern, bevor der Blick zur nächsten Insel schweifte und alles wieder von vorn begann. Es war ein bis dahin beispielloses goldenes Zeitalter sukzessiver Bevölkerungsexplosionen. Vielleicht waren es jene Zyklen von Kolonisation, Anpassung und explosionsartigem Bevölkerungswachstum, die der Evolution als Grundlage dienten, um die Voraussetzungen für den »großen Sprung nach vorn« zu schaffen, die dann womöglich westwärts auf Eurasien und Afrika zurückwirkten. Sollte dieses Szenario zutreffen, hätten Australien und Neuguinea einen gewaltigen Vorsprung errungen, der noch lange nach dem »großen Sprung« als Motor der menschlichen Entwicklung fortgewirkt haben könnte.
Wie Sie sehen, hätte es ein zeitreisender Beobachter im Jahr 11 000 v. Chr. schwer gehabt, sich für einen Kontinent als wahrscheinlichen Kandidaten für die schnellste Entwicklung menschlicher Gesellschaften zu entscheiden. Für jeden Kontinent ließen sich einige Argumente anführen. Im Rückblick wissen wir natürlich, daß die richtige Antwort Eurasien gelautet hätte. Doch wie sich zeigen wird, waren die Gründe für das raschere Tempo der Entwicklung in Eurasien ganz und gar nicht jene relativ simplen, die unser imaginärer Archäologe im Jahr 11 000 v. Chr. in Betracht zog. Um die Suche nach den wahren Ursachen geht es im restlichen Teil dieses Buches.
KAPITEL 2
Kollision in Cajamarca
Warum der Inka-Herrscher Atahualpa nicht auszog und König Karl I. gefangennahm
D ie größte Bevölkerungsverschiebung der jüngeren Geschichte war die Kolonisierung der Neuen Welt durch Europäer, verbunden mit der Unterwerfung, Dezimierung oder gar völligen Ausrottung der meisten amerikanischen Indianerstämme. Wie in Kapitel 1 ausgeführt, erfolgte die Erstbesiedlung der Neuen Welt um das Jahr 11 000 v. Chr. oder schon früher auf dem Wege über Alaska, die Beringstraße und Sibirien. Im Laufe der Jahrtausende entwickelten sich weit südlich jener Einfallsroute komplexe Agrargesellschaften in völliger Isolation von den ebenfalls im Entstehen begriffenen komplexen Gesellschaften der Alten Welt. Nach der ursprünglichen Besiedlung Amerikas von Asien aus fanden glaubhaft belegte Kontakte zwischen Neuer und Alter Welt lediglich zwischen Jägern und Sammlern statt, die an beiden Ufern der Beringstraße lebten. Hinzu kam wahrscheinlich eine Reise über den Pazifik, bei der die Süßkartoffel von Südamerika nach Polynesien gelangte.
Die Kontakte zwischen Völkern der Neuen Welt und Europa beschränkten sich in präkolumbianischer Zeit auf einige Fahrten der Wikinger, die zwischen 986 und etwa 1500 n. Chr. in kleiner Zahl auf Grönland siedelten und von dort aus wiederholt den Atlantik überquerten. Doch jene Wikinger-Besuche blieben ohne erkennbaren Einfluß auf die indianischen Gesellschaften in Amerika. So gesehen begann die Kollision zwischen höher entwickelten Kulturen der Alten und der Neuen Welt abrupt im Jahr 1492 mit der »Entdeckung« dichtbesiedelter Karibikinseln durch Christoph Kolumbus.
Der wohl dramatischste Moment in den sich daraufhin entwickelnden europäischindianischen Beziehungen war die erste Begegnung des Inka-Herrschers Atahualpa mit dem spanischen Konquistador Francisco Pizarro in der Stadt Cajamarca im Hochland von Peru am 16. November 1532. Atahualpa war absoluter Herrscher über das größte und fortschrittlichste Staatswesen der Neuen Welt, während Pizarro als Vertreter von Karl V, Kaiser des Heiligen Römischen
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