Arm und Reich
Europäer keine Abwehrkräfte besaßen, ozeantüchtige Schiffe bauten, fortgeschrittene politische Organisationsformen entwickelten und auf den Erfahrungsschatz einer mehrtausendjährigen Geschichtsschreibung zurückgreifen konnten? Bei dieser Frage geht es nicht mehr um unmittelbare Gründe, wie sie in diesem Kapitel erörtert wurden, sondern um die eigentlichen Ursachen. Ihnen soll in den beiden nächsten Abschnitten nachgegangen werden.
TEIL II
Beginn und Ausbreitungder Landwirtschaft
KAPITEL 3
Bauern-Power
Die Wurzeln der Ungleichheit
S eit der Abzweigung unserer Urahnen vom gemeinsamen Stammbaum mit den Vorfahren der Menschenaffen vor rund sieben Millionen Jahren ernährte sich der Mensch die allermeiste Zeit ausschließlich von Wild, das er jagte, und wilden Pflanzen, die er sammelte. Erst innerhalb der letzten 11 000 Jahre gingen einige Völker zu dem über, was wir als Nahrungsmittelerzeugung oder Landwirtschaft bezeichnen, also zur Domestikation von Wildtieren und -pflanzen zur Gewinnung von Nahrung in Form von Fleisch und pflanzlicherKost. Heute leben die meisten Erdbewohner von Nahrungsmitteln, die entweder von ihnen selbst oder von anderen Menschen erzeugt wurden. Falls das gegenwärtige Tempo des Wandels anhält, werden die wenigen noch verbliebenen Scharen von Jägern und Sammlern ihre Lebensweise innerhalb der nächsten zehn Jahre aufgeben, sich auflösen oder aussterben. Damit würde eine Daseinsweise, auf die der Mensch seit Jahrmillionen festgelegt war, endgültig der Vergangenheit angehören.
Diverse Völker vollzogen den Übergang zur Landwirtschaft zu unterschiedlichen prähistorischen Zeitpunkten.
Einige, wie zum Beispiel die australischen Aborigines, taten diesen Schritt nie. Von den Völkern, die ihn taten, entwickelten einige (z. B. die alten Chinesen) die Landwirtschaft von allein, während andere (z. B. die alten Ägypter) sie ihren Nachbarn abschauten. Wie wir sehen werden, war die Einführung der Landwirtschaft eine wichtige Etappe auf dem Weg, der zur militärischen und politischen Überlegenheit einiger Völker über andere führte. Deshalb liefern die geographischen Unterschiede im Ob und Wann des Übergangs zu Ackerbau und Viehzucht auf den verschiedenen Kontinenten einen wichtigen Beitrag zur Erklärung unterschiedlicher späterer Geschichtsverläufe. Bevor wir uns in den nächsten sechs Kapiteln damit auseinandersetzen, wie es zu den geographischen Unterschieden bei der Produktion von Nahrungsmitteln kam, wollen wir in diesem Kapitel die wesentlichen Zusammenhänge skizzieren, die bewirkten, daß die Landwirtschaft all die Vorteile bescheren konnte, die Pizarro die Gefangennahme Atahualpas ermöglichten (Abbildung 3.1).
Abbildung 3.1 [S. 125]. Schematische Darstellung der Kausalketten, die von eigentlichen Faktoren (wie der Ausrichtung der Kontinentalachsen) zu unmittelbaren Faktoren (wie Kanonen, Pferden und Krankheiten) hinführten, die einige Völker in die Lage versetzten, andere zu unterwerfen. Beispiel: Zahlreiche epidemische Krankheiten entwickelten sich in Regionen, die besonders gut mit domestikationsfähigen Pflanzen- und Tierarten ausgestattet waren. Das lag zum einen daran, daß dort im Laufe der Entwicklung Nutzpflanzen und Vieh einen größeren Beitrag zur Ernährung leisteten, so daß Gesellschaften mit hoher Bevölkerungsdichte entstehen konnten, die wiederum einen guten Nährboden für Epidemien abgaben; zum anderen stammten die Krankheiten von Erregern der domestizierten Tiere selbst ab .
Der erste Zusammenhang ist der nächstliegende und einleuchtendste: Mehr Kalorien bedeuten mehr Menschen. Von allen Wildpflanzen und -tieren, die in der Natur vorkommen, ist nur eine kleine Zahl für Menschen genießbar beziehungsweise lohnt die Mühe des Jagens oder Sammelns. Die meisten Arten taugen für uns nicht als Nahrung, weil sie einen oder gleich mehrere der folgenden Nachteile aufweisen: Sie sind unverdaulich (wie Baumrinde), giftig (wie Monarchfalter und Fliegenpilze), haben einen zu geringen Nährwert (wie Quallen), sind mühsam zuzubereiten (wie sehr kleine Nüsse), mühsam zu sammeln (wie die Larven der meisten Insekten) oder gefährlich zu jagen (wie Nashörner). Das Gros der Biomasse (Gesamtheit aller organischen Substanzen) auf den Kontinenten kommt in Form von Holz und Blättern vor, die für uns überwiegend nicht als Nahrung verwertbar sind.
Durch Auswahl und Anbau beziehungsweise Haltung
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