Arm und Reich
Abstinenz, Kindestötung und Abtreibung. Im Gegensatz dazu können Angehörige seßhafter Völker, denen sich das Problem des Mitschleppens von Kleinkindern beim Weiterziehen nicht stellt, so viele Kinder zur Welt bringen und großziehen, wie Nahrung vorhanden ist. In vielen bäuerlichen Gesellschaften ist der durchschnittliche Geburtenabstand mit etwa zwei Jahren halb so lang wie bei Jägern und Sammlern. Die höhere Geburtenrate der Bauern führte in Kombination mit ihrer Fähigkeit, pro Hektar mehr Personen zu ernähren, zu weitaus höheren Bevölkerungsdichten.
Eine andere Folge der seßhaften Lebensweise ist die Möglichkeit, Nahrungsvorräte anzulegen, was ja nur Sinn ergibt, wenn man zur Bewachung in der Nähe bleibt. Zwar erbeuten auch nomadische Jäger und Sammler zuweilen mehr Nahrung, als sie in wenigen Tagen verzehren können, doch im Grunde nützt ihnen das wenig, da eine längere Bewachung nicht in Frage kommt. Nahrungsvorräte sind dagegen eine Voraussetzung zur Unterhaltung von Personen, die spezialisierten Tätigkeiten nachgehen und selbst keine Nahrung produzieren – ganz besonders, wenn ganze Städte miternährt werden sollen. Nomadische Jäger-Sammler-Kulturen verfügen deshalb über wenige oder gar keine derartigen »Vollzeit-Spezialisten«. Diese tauchten erstmals in seßhaften Gesellschaften auf.
Zu ihnen zählen zum Beispiel Könige und Bürokraten. Gesellschaften von Jägern und Sammlern sind in der Regel vergleichsweise egalitär. Selten findet man in ihnen Vollzeitbürokraten oder Häuptlinge mit erblichem Status. Typisch sind für sie eher schwach ausgeprägte Formen politischer Organisation auf der Ebene von Kleinverbänden oder Stämmen, was daran liegt, daß alle gesunden Jäger und Sammler genötigt sind, einen Großteil ihrer Zeit der Nahrungsbeschaffung zu widmen. Wo Nahrungsvorräte angelegt werden, kann es dagegen einer politischen Elite gelingen, die Kontrolle über die von anderen produzierten Nahrungsmittel an sich zu bringen, Abgaben zu erheben, sich selbst vom Zwang zur Nahrungserzeugung zu befreien und nur noch politischen Geschäften nachzugehen. Entsprechend werden klei nere Agrargesellschaften oft von Häuptlingen regiert, während größere auch Könige an der Spitze haben können. Diese komplizierteren politischen Gebilde sind viel eher zur Führung längerer Eroberungskriege imstande als egalitäre Scharen von Jägern und Sammlern. In einigen Regionen wie an der Nordwestküste Nordamerikas und der Küste Ecuadors, die von der Natur besonders reich gesegnet sind, wurden Jäger und Sammler ebenfalls seßhaft, legten Nahrungsmittel vorräte an und ließen sich von Häuptlingen regieren. Weitere Schritte auf dem Weg zur Monarchie taten sie jedoch nicht.
Mit den Nahrungsvorräten, durch Abgabenerhebung aufgebaut, können nicht nur Könige und Bürokraten, sondern noch weitere Spezialisten miternährt werden. Von größter unmittelbarer Bedeutung für die Führung von Eroberungskriegen sind natürlich Berufssoldaten. Der Erfolg der Engländer im Kampf gegen Neuseelands gut bewaffnete Maori-Bevölkerung war diesem entscheidenden Punkt zuzuschreiben. Die Maoris errangen zunächst beeindruckende Siege, waren jedoch nicht in der Lage, ein stehendes Heer zu unterhalten, so daß sie am Ende vor der britischen Streitmacht aus 18 000 Berufssoldaten kapitulieren mußten. Nahrungsvorräte können auch dazu dienen, Priester mitzuernähren, die Eroberungskriege religiös legitimieren. Oder Handwerker wie zum Beispiel Schmiede, die Schwerter und Kanonen oder andere militärische Technologien erfinden. Sie können auch zur Unterhaltung von Schreibern verwendet werden, die mehr Informationen festhalten, als irgendein Mensch in seinem Gedächtnis speichern kann.
Bis jetzt ging es um den direkten und indirekten Wert von Nutzpflanzen und Vieh als Nahrungslieferanten. Darüber hinaus profitieren wir von ihnen jedoch noch auf andere Weise, beispielsweise als Spender von Schutz vor Kälte sowie von wertvollen Materialien. Aus Pflanzen und Vieh werden Naturfasern zur Herstellung von Kleidung, Decken, Netzen und Seilen gewonnen. In den meisten frühen Hauptzentren der Landwirtschaft wurden nicht nur Nahrungs-, sondern auch Faserpflanzen domestiziert – man denke vor allem an Baumwolle, Flachs (zur Herstellung von Leinen) und Hanf. Etliche domestizierte Tierarten dienten als Lieferanten tierischer Fasern – insbesondere Schafe,
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